Woran Deutschland krankt:"Die Menschen vertrauen der Politik nicht mehr"

Dunkle Regenwolken über dem Reichstag

Dunkle Regenwolken über der Demokratie: Menschen laufen im Berliner Regieungsviertel über die Brücken der Spree zum Paul-Löbe-Haus.

(Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Kaum Debatten, wenig Erklärungen: Joachim Rogall, Chef der Bosch-Stiftung, zeichnet ein düsteres Bild von der Demokratie in Deutschland. Ein hartes Urteil - unmittelbar vor einem historischen CDU-Parteitag.

Interview von Stefan Braun und Jens Schneider, Berlin

Die Bosch-Stiftung gehört zu den größten Finanziers der deutschen Zivilgesellschaft. Sie kümmert sich um kleinste Projekte und größte Baustellen; sie finanziert Initiativen zur Förderung von Berufsschullehrern genauso wie Stipendienprogramme zur Stärkung Afrikas. Ihr Geschäftsführer Joachim Rogall gehört zu den wichtigsten Vertretern seiner Zunft. Er kennt die Entwicklungen im kleinen Dorf genauso wie die Probleme in der Welt. Interviews gibt der 59-jährige Historiker und Osteuropa-Experte selten; umso bemerkenswerter ist es, wie er jetzt seinem Ärger über Versäumnisse der Regierung, Schwächen der Kanzlerin und eine verfehlte Ostpolitik der EU freien Lauf lässt.

SZ: Herr Rogall, die Stimmung in Deutschland ist nicht gut. Der Ton ist rau, die Volksparteien haben bei Wahlen dramatische Verluste erlitten. Und die Nachbarn schauen mit Sorge auf Berlin. Woran krankt Deutschland?

Joachim Rogall: Wo soll ich anfangen! Ich glaube, es geht um Vertrauen. Wenn ich mich umhöre, bei Bekannten, bei Kollegen, bei Partnern, dann hat das Vertrauen in den Staat, in seine Institutionen, in die Parteien und in die Regierung stark abgenommen. Man glaubt nicht mehr, dass sie in der Lage sind, die Probleme zu lösen.

Woran machen sie das fest?

Ich nehme ein Beispiel, das ganz aktuell ist: den UN-Migrationspakt. Seit 2015 sind Migration und Integration zwei der großen Themen. Jedem ist klar, dass das keine deutsche Geschichte ist. Es ist eine europäische, eine globale Geschichte. Also ist es absolut sinnvoll, dass es dazu eine internationale Absprache gibt. Warum hat man die Verabschiedung des UN-Migrationspakts nicht bewusst frühzeitig in die öffentliche Debatte geholt, mit allen Vor- und Nachteilen? Für mich war das ein großes Versäumnis - und ein Beispiel dafür, warum viele Leute nicht mehr das Vertrauen haben, dass ihre Interessen umgesetzt werden.

Ein Problem der Kommunikation?

Nicht nur. Es geht um die Erklärung des eigenen Handelns und den Prozess hin zu einer Entscheidung. Nur wenige Politiker streiten ab, dass wir internationale Vereinbarungen brauchen. Aber hier sollte etwas vom Bundestag abgesegnet werden, ohne dass zunächst eine öffentliche Diskussion und eine ausführliche Befassung des Parlaments stattgefunden hätte. Ich habe das als Fehler empfunden. Glücklicherweise hat die Debatte jetzt doch noch stattgefunden.

Was ist passiert in diesem Land? Dass Debatten gebremst werden, hat es immer mal gegeben. Sie reden aber jetzt von einem grundsätzlichen Vertrauensverlust und dem Eindruck: Das soll jetzt alles an uns vorbei entschieden werden.

Es hat nach meinem Eindruck eine Anhäufung solcher Vorfälle gegeben. Wenn man Frau Merkel etwas vorwerfen kann, dann ist es, dass sie oft einsame Entscheidungen trifft. Entscheidungen, die weder im Parlament ausführlich debattiert noch mit europäischen Nachbarn abgestimmt werden. Man kann in der Sache immer der Meinung sein, dass sie das richtige getan hat. Trotzdem finde ich das Vorgehen falsch.

Joachim Rogall

Joachim Rogall, Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung.

(Foto: Bjoern Haenssler; Bosch Stiftung/Björn Hänssler)

Gut verwalten reicht nicht mehr?

Es kann und darf nicht alles sein. Und weil es kein Einzelfall mehr ist, sondern ein Muster, ist man misstrauisch geworden. Es handelte sich bei Energiewende, Migration oder Wehrpflicht ja um wichtige Themen, bei denen man als Regierung und als Parteien, nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, darüber einen Diskurs zu führen.

Wie soll das aussehen?

Dazu gehört, dass die Fakten rechtzeitig auf den Tisch gelegt werden, dass die unterschiedlichen Interessen benannt werden, dass dann eine Diskussion ermöglicht wird - und erst dann eine Entscheidung getroffen und begründet wird. Das ist Demokratie. Wir brauchen keine Partei, keine Kanzlerin, keine Regierung, die so etwas alleine entscheidet, womöglich noch als Coup, von dem alle überrascht werden.

Zumal die Leute mehr und mehr debattieren wollen.

So ist es. Aber das verlagert sich, findet nicht mehr im Parlament und damit in der Öffentlichkeit statt, sondern mehr und mehr in Blasen oder Zirkeln. Man diskutiert und streitet nur noch unter Gleichgesinnten. Bei Facebook gab es jetzt eine Kampagne, mit der sich viele meiner Freunde gegen Rechtsextremismus positioniert haben. Das ist natürlich nichts Schlechtes. Aber es bleibt sehr selbstbezogen. Alle Freunde bestätigen sich gegenseitig - und die außerhalb dieses Freundeskreises, auch die Rechtsextremen, die gemeint sind, bekommen das gar nicht mit. Es entstehen also viele kleine Nebenwelten von Gleichgesinnten.

Ist das nicht schlicht die neue Welt?

Doch, leider. Aber wollen wir das? Reicht es uns? Ich denke, das tut es auf keinen Fall. Früher hatten wir zu vergleichbar großen Fragen, ich nehme mal die Ostverträge oder die Wiederbewaffnung oder die Nachrüstung, riesige Debatten. Das war ganz sicher für alle Beteiligten nicht immer spaßig. Aber am Ende kam es zu einem für die Mehrheit tragfähigen Kompromiss. Heute wird oft gar kein Kompromiss gesucht, sondern erklärt, es sei alternativlos. Das finde ich das Unwort überhaupt in der Politik. In einer Demokratie kann nie etwas alternativlos sein.

Sind die Regierenden zu bequem geworden?

Ich bin jetzt in dem Alter, in dem man durchaus leicht nostalgisch wird. Aber ich meine, dass wir in der alten Bundesrepublik eine ganz gute Diskussionskultur hatten. Ich glaube, seit der Wiedervereinigung haben wir etwas verpasst. Meiner Meinung nach wäre es zum Beispiel richtig gewesen, eine neue gemeinsame Verfassung zu schreiben, mit einem aus West- und Ostdeutschland gebildeten Parlamentarischen Rat.

Die Erzählung von der Alternativlosigkeit begann mit der Vereinigung?

Für mich schon. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Wiedervereinigung ist eine der Sternstunden meines Lebens. Das ist ein unverhofftes Geschenk, und ich freue mich jeden Tag darüber. Trotzdem war es eine verpasste Chance, für dieses neue Deutschland keine gemeinsame neue Verfassung erarbeiten zu lassen, sondern es für viele Ostdeutsche wie einen Anschluss an Westdeutschland zu gestalten. Psychologische Faktoren, auch Symbolhandlungen, sind oft wichtiger als Fakten. Auch die Grenzöffnung oder bewusste Nicht-Schließung der Grenze im Herbst 2015 war moralisch und politisch richtig. Aber es war falsch, das dann quasi zum Normalzustand zu erklären.

War das "Wir schaffen das" der Kanzlerin die richtige oder die falsche Botschaft?

Die Formulierung war eine starke politische Parole. Doch was das Land genau schaffen sollte, hat sie nicht gesagt. Nur die Erstaufnahme mit einem Dach über dem Kopf? Endlich den Druck von den Grenzen wegzunehmen? Oder ging es um erfolgreiche Integration? Die Schaffung einer neuen deutschen Gesellschaft, von der heute noch keiner weiß, wie sie einmal aussehen wird? Wir werden ja mit den Folgen der damaligen Entscheidung noch über Jahrzehnte beschäftigt sein, mit Erfolgsgeschichten wie auch mit der Spaltung der Gesellschaft und dem Aufstieg des Populismus.

"Man erwartet von einer Regierung und auch von Parteien, dass sie eine Agenda haben"

Ist das nicht zu schaffen?

Ich bin überzeugt davon, dass eine Gesellschaft wie die unsere das schaffen kann. Und ich will nicht dauernd Frau Merkel kritisieren, weil ich finde, dass sie unglaublich viel geleistet hat. Ihre unaufgeregte und geduldige Haltung bei schwierigsten Entwicklungen in Deutschland und Europa war bewundernswert. Aber mich ärgert das Fehlen einer längerfristigen Vision, einer klaren Zielbestimmung, weil sie die Akzeptanz ihrer Politik erschweren. Sie hat mal gesagt, sie fahre auf Sicht in einem nebligen Umfeld. Das nimmt ihr jeder ab. Aber das ist nicht nur für Politiker ein beunruhigendes Bild. Man erwartet von einer Regierung und auch von Parteien, dass sie eine Agenda haben, mit der sie weiter vorausschauen als nur ein paar Meter.

Warum?

Ich glaube, dass die Bevölkerung bereit wäre, auch zurückzustecken und Opfer zu bringen, wenn man ihr klar vermittelt, was das Ziel der Reise sein soll und nicht versucht, die Probleme zu verharmlosen. Wenn man offen über das Für und Wider von Entscheidungen redet. Man darf nicht den Eindruck erwecken wollen, Entscheidungen seien harmlos. Das gilt auch für die Energiewende, für die Flüchtlingsaufnahme, für die Umwälzungen durch die Digitalisierung. Und es gilt für Deutschlands künftige Rolle als Anwalt einer demokratischen und multilateralen Welt. Dafür braucht es viel Mut, viel Leidenschaft, aber auch Visionen und die Ansage, dass uns das alle viel Anstrengung kosten wird. Ich glaube, nur so kann man die Menschen davon überzeugen, dass wir die großen Aufgaben wirklich schaffen werden.

Entscheiden allein reicht nicht?

Nein, das reicht nicht. Und Probleme kleinreden erst recht nicht. Dann fühlen sich die Leute nicht ernst genommen und wenden sich ab. Wie oft sprechen Politiker über die komplexen Probleme und präsentieren trotzdem einfache Lösungen. Dabei weiß jeder, dass es komplizierter ist. Politiker und Parteien glauben offenbar, dass ihnen ansonsten die Leute weglaufen. Dabei ist es genau umgekehrt - die Leute laufen weg, weil sie den Eindruck haben, dass ihre Probleme nicht ernst genommen werden.

Warum neigt die Politik dazu, nicht mehr viel zu erklären, sondern schnell zu entscheiden?

Offensichtlich aufgrund der Fehleinschätzung, man könnte die oft harte Wahrheit den Wählern nicht zumuten. Aber ich glaube, dass die Bevölkerung viel klüger und opferbereiter ist als die Politik oft unterstellt.

Sie klingen zornig.

Ich halte das für eine Verkümmerung der politischen Sitten. Man muss solche wichtigen und komplexen Dinge wie Energiewende, Wehrpflicht und Migration frühzeitig offen diskutieren. Ja, dann kann es für eine Regierung noch ein bisschen komplizierter werden und es kann auch länger dauern. Aber so ist halt Demokratie. Einbezogen zu werden - das steht uns als Staatsbürger zu.

Warum ist das keine Selbstverständlichkeit?

Ich weiß es nicht, lese es aber als Zeichen der Schwäche unserer Politik. Wenn ich in der Sache überzeugt bin, dann bin ich doch auch in der Lage, mich in Debatten zu stürzen. Und am Ende kann es sein, dass der andere überzeugender ist. Und dann muss ich auch mal damit leben. In der Demokratie haben weder die Regierung noch die Opposition das Wahrheitsmonopol. Dass eine Regierung zum Beispiel auch bei manchen europäischen Fragen nicht auf die Mündigkeit ihrer Bürger vertraut, finde ich bedenklich. Und die Bürger spüren das.

Ist das Demokratie-gefährdend?

Ja, weil wir uns da an Muster gewöhnen, die demokratische Regeln außer Kraft setzen.

Hat die Migration unser Land überfordert?

Unsere Gesellschaft hat generell stark an Bindekraft verloren. Vieles, was uns früher zusammengehalten hat, ist weniger geworden. Heute ist selbst auf dem Land nicht mehr der Sport- oder Musikverein das wichtigste, sondern die Facebook-Freundschaft oder andere soziale Medien. Das verändert. Dazu kommt die Migrationsfrage, die bei uns ja gar nicht mit den aktuellen Flüchtlingen angefangen hat. Schauen Sie auf die Nachfahren der "Gastarbeiter", die zweite und dritte Generation. Hier gibt es eine erhebliche Zahl an Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht zugehörig zu unserer Gesellschaft fühlen. Das ist eine dramatische Niederlage für unser Land, da haben beide Seiten viel falsch gemacht.

Was haben wir falsch gemacht?

Wir haben noch keinen Konsens darüber gefunden, was für eine Gesellschaft wir sein wollen. Wir haben keinen Konsens darüber, was wir von Neuzuwanderern erwarten und ihnen gegenüber leisten müssen. Die Menschen, die zu uns kommen, wissen deshalb gar nicht, worauf sie sich einstellen, in was für eine Gemeinschaft sie sich integrieren sollen. Das ist ein riesiges Problem. Jeder, der nach Frankreich oder in die Türkei oder in die USA zieht, hat relativ klare Vorstellungen, was man von ihm erwartet. Wir in Deutschland aber schaffen es nicht, unsere Bedingungen klar zu machen.

"Deutschland müsste sich als Übersetzer und Brückenbauer verstehen"

Was würden Sie vorschlagen?

Mich stört, dass ein Begriff wie Leitkultur so diffamiert worden ist. Ich verbinde mit diesem Begriff keine Diskriminierung oder Abwertung anderer Kulturen, sondern eine Orientierung über gemeinsame gesellschaftliche Vorstellungen und Werte, und genau das ist es, was wir bräuchten. Dazu gehören unsere in Deutschland nach dem Krieg entwickelte Art der Geschichtsaufarbeitung, unsere Weltoffenheit, Toleranz und Emanzipation. Dazu gehören auch unsere Sprache und unsere regionalen Unterschiede, unserer gesamte, so überaus reiche Kultur. Und ehrlich gesagt: wir können doch auch von einem Amerikaner genauso wie von einem Ägypter erwarten, dass er sich auf diese spezifisch deutschen Verhältnisse einlässt, wenn er auf Dauer bei uns leben möchte.

Nicht nur Deutschland krankt, auch Europa tut es. Und es gibt vor allem in Osteuropa viele, die dafür die Migrationspolitik des Jahres 2015 verantwortlich machen. Haben diese Leute Recht?

Die Migration ist nur Teil der Probleme, die diese Länder haben. Nach dem Fall des Kommunismus sind die früheren sowjetischen Satellitenstaaten aus Überzeugung Teil Westeuropas geworden. Bis hinauf ins Baltikum. Esten, Letten, Litauer, Polen, Tschechen oder Slowaken fühlen sich alle nicht als Osteuropäer, sondern als West- oder Mitteleuropäer. Für viele war das so etwas wie die Heimkehr. Man muss dabei sehen, dass das Gesellschaften sind, die in der Sowjetzeit um ihre blanke Existenz fürchten mussten.

Und was hat das mit den Flüchtlingen im Jahr 2015 zu tun?

Aus Sicht dieser Länder droht ihnen eine erneute Dominanz durch andere, nachdem sie sich gerade von der Gefahr der früheren Sowjetunion emanzipiert haben. Obwohl sie meist gar keine große Migration haben, fürchten sie um ihre nationale Einheit und Selbstbestimmung. Deutschland mit seinen großen Einwanderungszahlen und den damit verbundenen Problemen ist für sie ein abschreckendes Beispiel. Man kann das für falsch halten, aber man muss es wissen.

Wenn man in Polen über diese Situation spricht, wird eine starke Irritation spürbar. Da ist das Gefühl: Ihr Deutschen wollt uns diktieren, dass wir so zu sein haben, wie Ihr seid in Europa.

In diesen Ländern in Osteuropa ist das ganz klar die Sicht.

Haben Sie dafür Verständnis?

Ich habe dafür viel Verständnis, weil man in ganz vielen Bereichen die Befindlichkeiten und die Erfahrungen der östlichen EU-Ländern nie wirklich wahrgenommen hat und sich in Deutschland über Fragen wie Migration nicht mit ihnen abgestimmt hat.

Interessiert man sich nicht dafür?

Viele in Polen haben das Gefühl, dass in der EU ihre historische Erfahrung nicht ausreichend berücksichtigt wird.

Welche Rolle müsste Deutschland da einnehmen?

Es müsste sich als Übersetzer und Brückenbauer verstehen. Wir können beides im Blick haben und erläutern, bei uns leben so viele Russen und Polen, Tschechen und auch Menschen aus der Ukraine.

Aber ist das im Bewusstsein? Wir sitzen hier in der Mitte Berlins in der deutschen Hauptstadt, die nur eine kurze Autofahrt von der polnischen Grenze entfernt ist. Im Bewusstsein spielt das keine Rolle.

Ich weiß nicht, warum wir uns da als Deutsche so schwer tun. Es bleibt oft bei Symbolhandlungen. Jeder neugewählte Bundeskanzler fährt inzwischen zuerst nach Polen und dann nach Frankreich. Trotzdem hat es nie denselben Stellenwert. Dabei hätte eine französisch-deutsch-polnische Allianz viel Potential für die europäische Entwicklung.

Weiß Deutschland, was es sein will in der EU?

Wir führen diese Debatte nicht. Es gab den Vorstoß des französischen Präsidenten für eine Vertiefung der Europäischen Union, aber hier wurde nicht ausreichend darauf reagiert, keine grundsätzliche Diskussion darüber begonnen. Auch die Brexit-Entscheidung in Großbritannien hat nicht dazu geführt, dass darüber gesprochen worden wäre, wie Europa künftig aussehen soll. Da wurde vor allem über "Bestrafungsszenarien" gegenüber den Briten nachgedacht, als ob signalisiert werden sollte, dass ein Austritt zu schmerzhaft ist, um ihn zu wagen.

Um einen Domino-Effekt zu vermeiden.

Eine seltsame Einstellung. Wenn die EU derzeit nicht so attraktiv ist, dass ihre Mitglieder dabei bleiben wollen, läuft doch etwas falsch.

Wie erklären Sie sich den Kleinmut?

Für mich ist das unverständlich. Wir haben hier ein wunderbares Land. Deutschland hat sich seit dem Krieg so gut entwickelt. Und das nach der absoluten Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Nun haben wir eine Riesen-Erfolgsgeschichte, mit einer stabilen Demokratie, der Wiedervereinigung, mit der europäischen Einigung und können doch nicht richtig stolz darauf sein. Patriotismus ist bei uns verpönt, wird als uneuropäisch angesehen.

Sie halten das für symptomatisch?

Ich finde es bedauerlich, dass wir den Patriotismus den Radikalen überlassen. Dabei ist, wie der französische Präsident gesagt hat, Patriotismus das Gegenteil von Nationalismus. Aber wir können uns nicht unvoreingenommen zu unserem Staat und seinen Symbolen bekennen.

Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am 9. November in seiner Rede: "Den Verächtern der Freiheit dürfen wir diese Farben niemals überlassen! Sondern lassen Sie uns stolz sein auf die Traditionslinien, für die sie stehen: Schwarz-Rot-Gold, das sind Demokratie und Recht und Freiheit!"

Genau das meine ich. Wir müssen solche demokratischen Symbole, die im Fall des Schwarz-Rot-Gold bis lange in die Zeit vor der Märzrevolution von 1848 zurückgehen, aber auch Begriffe wie Heimat schützen. Sie können für Einheimische und auch für Zuwanderer eine Identifikation schaffen. Denn zu diesen Farben und Symbolen kann sich jeder bekennen, gleich welcher Herkunft er ist. Sie sollten, wie zum Beispiel in den USA, auch in Deutschland zum Zeichen der Zugehörigkeit werden, Ausdruck einer demokratischen, freien und toleranten Gemeinschaft, auf die wir durchaus stolz sein dürfen.

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