SZ-Serie "Schaffen wir das?", Folge 13:"Weniger Aufgeregtheit ist meine Utopie"

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(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Die Integrationsforscherin Naika Foroutan hofft auf mehr Normalität im Zusammenleben mit Flüchtlingen. Zunächst aber erwartet sie, dass die Spannungen zunehmen.

Interview von Stefan Braun und Ferdos Forudastan

SZ: Frau Foroutan, wie müsste Deutschland 2030, also 15 Jahre nach dem Zuzug vieler Flüchtlinge, aussehen, damit die Integrationsforscherin sagt: "Wir haben es geschafft"? Wie sieht Ihre Utopie für 2030 aus?

Naika Foroutan: Zunächst und ganz banal ausgedrückt so, dass das Gleichheitsversprechen, das die Moralphilosophie, die Ethik und die Verfassungen Europas ihren Bürgern gegeben haben, umgesetzt wird. Kein Mensch darf aufgrund Herkunft, Religion, Geschlecht et cetera benachteiligt werden, sagt Artikel 3 des Grundgesetzes. Wenn Sie jetzt die Frage der Utopie mit Bezug auf Migranten stellen, dann wäre meine Antwort, dass diese auch als Bürger in diesem Land umfassend angekommen und als Gleiche unter Gleichen behandelt sein mögen. Dass sie dieses Land mit prägen, so wie es viele andere auch tun, aktiv oder zurückgezogen, engagiert oder unauffällig als Mitglieder einer pluralen Demokratie.

Flüchtlinge als Gewinn für unser Land?

Nein. Meine Utopie macht sich nicht am Gewinn fest, sondern am Gedanken der Normalität. Dass das Leben mit denen, die zu uns gekommen sind, nicht mehr als anormaler, latent bedrohlicher, vorläufiger Zustand begriffen wird, sondern als alltägliche Selbstverständlichkeit - eine normale Vielfalt und Banalität des Alltags eben. Weniger Aufgeregtheit ist meine Utopie. So wie es eine Selbstverständlichkeit ist, dass es Männer und Frauen gibt.

Integration in Deutschland

Dieser Text ist Teil der SZ-Integrationsserie "Schaffen wir das?". Alle Folgen der Serie finden Sie hier.

Das Einwanderungsland als Selbstverständlichkeit: Angesichts der oft schrillen Flüchtlingsdebatte ist das derzeit nur schwer vorstellbar. Ein Teil der Bevölkerung hadert sehr damit, dass Deutschland viele Menschen aufgenommen hat.

Das stimmt. Gleichzeitig haben heute knapp 25 Prozent der Bewohner Deutschlands einen migrantischen Hintergrund. In den Schulen sind es 37 Prozent der Kinder, Tendenz steigend. Diese jungen Leute werden zu Wählern, oder sind es schon heute. Sie gehören bereits jetzt zu den Konsumenten. Und sie wachsen mit der Digitalisierung auf. Das heißt, sie werden die Zukunft des Landes zunehmend mitprägen.

Migrationsforscher zur 'Pegida'-Bewegung

Naika Foroutan, 46, ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Berliner Humboldt-Universität und Gründungsvorstand des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung.

(Foto: Bernd Von Jutrczenka/dpa)

Und was heißt das mit Blick auf Ihre Hoffnung für 2030?

Dass wir diese Menschen dann als digitale Generation behandeln und nicht als Generation mit Migrationshintergrund. Allerdings: Dieser Zustand stellt sich nicht von alleine ein. Die Zahlen der Menschen mit Migrationshintergrund, und seien sie noch so hoch, ändern nicht zwangsläufig etwas an den Verhältnissen.

Was bedeutet das?

Lassen Sie es mich mithilfe dieses Beispiels erklären: Es gab immer schon fünfzig Prozent Frauen. Aber erst seit hundert Jahren dürfen sie wählen. Ein weiteres Beispiel: In den USA hat mittlerweile fast die Hälfte der Bürger einen Migrationshintergrund. Aber die Ungleichheit und auch rassistische Strukturen sind trotzdem keineswegs verschwunden. Die pure Menge an Menschen ändert nicht automatisch etwas an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Es ist der Kampf um Gleichheit, der sie infrage stellt.

Wenn wir diesen Gedanken auf Deutschland übertragen, wo immer mehr junge Menschen ausländische Wurzeln haben werden ...

... dann heißt das noch lange nicht, dass die Gesellschaft selbstverständlich mit Migration und ihren Folgen umgeht. Man muss sogar noch einen Schritt weitergehen. Es gibt die Gefahr, dass Spannungen erst mal eher größer werden, je mehr Migranten aufsteigen, gute Jobs bekommen oder ihre Kinder in begehrte Schulen schicken. Denn wenn das passiert, reagiert ein Teil der Menschen abwehrend. Entweder weil sie Konkurrenz befürchten oder weil sie sagen: Ich war zuerst da, warum kann der an mir vorbeiziehen? Diese Menschen wollen nicht, dass das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte Normalität wird.

Wie groß ist der Rückschlag auf dem Weg zu dieser Normalität - mit Blick auf den erstarkenden Rechtsextremismus oder den Erfolg der AfD?

Der Rückschlag ist gerade enorm.

  • Merkel hat vor drei Jahren gesagt: "Wir schaffen das!" Was ist aus den Flüchtlingen geworden, die seit 2015 geblieben sind? In der Serie "Schaffen wir das?" gibt die SZ jede Woche Antworten.

Aber die Republik hat sich auch weiterentwickelt. Vor 25 Jahren lehnte Kanzler Helmut Kohl einen Besuch bei Angehörigen der Opfer des rassistischen Brandanschlags in Solingen mit dem Argument ab, das sei Beileidstourismus. Das wäre heute undenkbar.

Man glaubt immer, der Fortschritt ließe sich nicht mehr zurückdrehen. Aber das ist falsch. Wir bejubeln, dass die deutsche Fußball-Nationalmannschaft anders als früher viele junge Menschen aus Einwandererfamilien in ihren Reihen hat. Aber schwarze Fußballer berichten, dass Zuschauer Affengeräusche machen, wenn sie ins Stadion einlaufen. Oder schauen sie sich an, wie stark es der AfD gelingt, die politischen Diskussionen in diesem Land zu beeinflussen - obwohl sie nur eine Minderheit repräsentiert.

Was bedeutet das für die weitere Entwicklung auf dem Feld von Migration und Integration?

Es bedeutet, dass wir im Augenblick nicht sagen können, wie das Ringen zwischen Utopie und Dystopie - in dem Fall zwischen Normalisierung und Skandalisierung - ausgehen wird.

Wie schätzen Sie es ein?

Ich glaube, dass derzeit um zentrale Privilegien gerungen wird, ökonomische und kulturelle. Meine Hoffnung ist: Wir wachsen zu einer Gesellschaft heran, in der die Frage, woher jemand ursprünglich kommt, nicht mehr darüber entscheidet, wohin er oder sie sich entwickelt.

Das reicht Ihnen?

Nein, tut es nicht. Es ist nur meine kleine Utopie. Die große ist die von Gleichheit, und sie reicht weit über die Migrationsfrage hinaus. Der "Weltreport über Ungleichheit" von 100 Forschern um den französischen Ökonomen Thomas Piketty attestiert Deutschland eine so ungleiche Verteilung von Einkommen wie zuletzt 1913. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Oder damit, dass ganze Bevölkerungsgruppen - Frauen, Nicht-Akademiker, Migranten, Ostdeutsche etwa - in zentralen gesellschaftlichen Positionen wie politischen Ämtern, Richterposten oder Vorständen von Unternehmen viel weniger vertreten sind; oder dass Millionen Kinder hier von Armut betroffen sind. Ungleichheit darf nicht Normalität sein. Dafür sollten sich benachteiligte und privilegierte Menschen, die das Gleichheitsziel als demokratisches Versprechen sehen, zusammenschließen. Gleichheit ist ein universelles Ziel. Das haben wir bei all unserer Freiheits- und Selbstverwirklichungssehnsucht aus den Augen verloren.

Sehen Sie Chancen, dass sich das ändert?

Weit mehr Menschen als man glaubt, sind bereit zur Solidarität und dazu, abzugeben, wenn es dafür anderen auch gut geht. Und damit meine ich nicht nur den Migranten. Wir brauchen eine politische Elite, die das aufnimmt und sich nicht an denen orientiert, die Angst schüren, vor allem Angst vor Migranten. Dann könnte man sagen: Wir haben es geschafft.

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