Debatte um Thilo Sarrazin:Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

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Populismus hat inzwischen auch in Deutschland eine Chance. Die Volksparteien tragen eine Mitschuld: Weil sie die Sorgen ihrer Mitglieder nicht ernst nehmen und bei dem Streben zur politischen Mitte ihre Ränder verlieren.

Joachim Käppner

Von dem bärtigen Barden Franz-Josef Degenhardt stammt das hübsche Lied: "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder; geh doch in die Oberstadt, mach's wie deine Brüder ..." Degenhardt selbst machte es nicht wie seine Brüder und Genossen und sang mitten in der Reform-Ära Brandt das hohe Lied der Kommunisten; für diese Torheit flog er hochkant aus der SPD.

Prügel in den Medien, Erfolg in Umfragen: Fast jeder fünfte Deutsche würde eine von Sarrazin gegründete Partei wählen. (Foto: ddp)

Die Sozialdemokraten haben stets um ihre Identität kämpfen müssen; sie predigten Fortschritt, wurden aber links überholt, wenn das Regierungsgeschäft sie zu Kompromissen zwang. So entstanden die Grünen, so entstand die Linkspartei; beide Fleisch vom Fleische der SPD.

Thilo Sarrazin, den die SPD jetzt so dringend loswerden will, geht mit seinen Untergangsvisionen zur Einwanderungsgesellschaft zwar am rechten Rand um. Aber was der irrlichternde Noch-Genosse äußert, findet auch an der Parteibasis Anklang. Und nicht nur dort. Laut Emnid-Institut würden 18 Prozent der Deutschen eine Sarrazin-Partei wählen: Der Ungeliebte ist auf dem Weg zum Volkshelden. Männer wie er lieben die Rolle des einsamen Streiters, der sage, was die Menschen denken.

Die wenig selbstbewusste Weise, mit der die Parteiführung ihn ausschließen will, macht ihn nur um so mehr zum Märtyrer. Man kann sich nicht vorstellen, dass der kauzige Eigenbrötler Sarrazin das Zeug dazu hätte, eine politische Kraft anzuführen. Doch auch in Deutschland muss der Rechtspopulismus nicht länger erfolglos bleiben, wie die breite Zustimmung für Sarrazins Thesen zeigt.

Volkstribunen feiern quer durch Europa Erfolge, in Holland, Frankreich, Großbritannien; in Ungarn regieren sie neuerdings. Man darf das nicht mit offenem Rechtsradikalismus verwechseln, auch wenn es Überschneidungen gibt; im Wesentlichen offenbart sich hier eine tiefsitzende Angst vor der Moderne, dem gesellschaftlichen Wandel, dem Verlust an Identität. Eben das manifestiert sich nun in der Begeisterung für Sarrazin.

Bisher sind die rechten Protestparteien in der Bundesrepublik vor allem an zwei Gegnern gescheitert: erstens an sich selbst und zweitens an der Union. Alle konservativen Gründungen der jüngeren Zeit - etwa jene des "Richters Gnadenlos", Ronald Schill - zogen Politquerulanten an wie das Licht die Motten. Selbst der ernsthafteste Versuch, die Statt-Partei der neunziger Jahre, demontierte sich erfolgreich selbst.

Entscheidend aber war etwas anderes: Über Jahrzehnte haben CDU und CSU den rechten Flügel integriert und dabei das Kunststück fertiggebracht, nach ganz rechts eine Grenze zu ziehen. Echte Nazis hatten nach 1945 keine Chance mehr. Die Heimatvertriebenen aber, die Stahlhelmfraktion, die fanatischen Antikommunisten, die christlichen Erzkonservativen: Sie alle wurden von der Volkspartei aufgesogen. Ihr gelang, woran die SPD scheiterte.

Es haben Bundestagsabgeordnete der Union früher im Parlament die Todesstrafe gefordert oder eine Bestrafung von NS-Verbrechen abgelehnt, oft mit Argumenten, die jeden Christdemokraten heute sofort die politische Karriere kosten würden. Die Gesellschaft hat sich gewandelt und mit ihr die Union; sie ist offener geworden und zur Mitte gerückt, und das in einem Ausmaß, das die verbliebenen Konservativen verwirrt zurücklässt.

Ähnlich geht es vielen aus dem schwindenden Arbeitermilieu der SPD. Hier bietet sich dem Populismus - vorausgesetzt, er fände einmal charismatische Anführer wie in Holland Geert Wilders -, eine Gelegenheit, die es lange nicht mehr gab.

Die Parteien müssen lernen, die Sorgen auch der eigenen Anhänger ernster zu nehmen. Eine Verteufelung von Sarrazin, so hässlich der auch daherredet, genügt dafür nicht. Bisher heißt ihre Botschaft an die Wähler bloß: "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern." Aber dieses Spiel, das hat schon Degenhardt gesungen, ist sehr verlockend.

© SZ vom 06.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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