Corona-Impfstoff in der EU:Eine Entscheidung im europäischen Geist

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Jens Spahn und Angela Merkel bei einer Kabinettsitzung vor Weihnachten (Foto: Florian Gärtner/imago images/photothek)

Die EU-Kommission hat beim Impfstoff suboptimal verhandelt. Dass Angela Merkel und Jens Spahn das Vakzin nicht im Alleingang besorgt haben, war trotzdem richtig.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Manche Kritiker der deutschen Impfstrategie merken gar nicht, dass die Bundesregierung bei der Beschaffung des Impfstoffs genau das getan hat, was sie von Angela Merkel immer wieder gefordert haben. Als die Kanzlerin nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima den rot-grünen Atomausstieg reaktivierte, wurde ihr vorgeworfen, die europäischen Partner mit der Entscheidung überfallen zu haben. Als Merkel 2015 die Flüchtlinge ins Land ließ, lautete der Vorwurf wieder, sie habe sich nicht mit den europäischen Partnern abgestimmt und spalte damit die EU. Als die Bundesregierung in der ersten Welle der Corona-Pandemie einen Exportstopp für wichtige medizinische Güter verhängte, wurde sie des hartherzigen Nationalismus bezichtigt.

Nun haben Merkel und ihr Gesundheitsminister Jens Spahn im Sommer die Beschaffung des Impfstoffs an die Europäische Union delegiert, und in Deutschland ist jetzt der Aufschrei groß, weil angeblich zu wenig Vakzin geordert wurde. Die Kommission hat offenkundig suboptimal verhandelt, der Geschäftsführer der Firma Biontech hat diesen Verdacht nun in einem Spiegel-Interview verstärkt. Aber ist das wirklich ein Argument gegen die Europäisierung der Beschaffung an sich? Die Alternative wäre ein ruinöser Überbietungswettbewerb der einzelnen EU-Staaten gewesen. Deutschland hätte dieses Rennen dank seiner finanziellen Möglichkeiten wahrscheinlich sogar gewonnen, aber politisch und moralisch wäre es - noch dazu in den Monaten der EU-Ratspräsidentschaft - ein Desaster geworden.

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Von Henrike Roßbach und Kathrin Zinkant, Berlin

Dass Berlin einen deutschen Sonderweg vermieden hat, war deshalb richtig. Jens Spahn hat jüngst auf die Verantwortung hingewiesen, die man damit gerade für die kleineren oder wirtschaftlich schwächeren Partner übernommen hat. Es war eine Entscheidung, wie sie unbestrittene Groß-Europäer wie Helmut Kohl kaum anders getroffen hätten. Dass sich Frankreich massiv in die EU-Verhandlungen eingemischt und zugunsten des französischen Herstellers Sanofi interveniert haben soll, der nun nicht liefern kann, spricht ebenfalls nicht grundsätzlich gegen das gemeinsame Vorgehen. Diesen Vorgang sollten sich allerdings all jene merken, die eingedenk seiner blumig-entschlossenen Rhetorik Emmanuel Macron stets für einen besseren Europäer hielten als die Kanzlerin.

Nein, der Start der Impf-Kampagne in Deutschland ist nicht wirklich gelungen. Das Problem ist aber nicht allein der mangelnde Impfstoff, sondern eine Kommunikation, die es versäumte, die Allmählichkeit des Prozesses von Anfang an deutlicher zu machen; eine Kommunikation, die daran scheiterte, einen klaren Überblick zu geben, wann wie viel Impfstoff zur Verfügung stehen würde.

Jens Spahn hat angekündigt, es werde ruckeln. Nun aber kommt der Prozess nur sprotzend und krachend in Gang wie ein Traktor mit kaputten Zylindern. Das ist in einer ohnehin angespannten Lage misslich. Man kann von Menschen in einem Alter jenseits der 80, die vielleicht seit Monaten auf den Besuch ihrer Kinder und Enkel verzichtet haben, nicht erwarten, dass sie Geduld aufbringen, wenn sie erst vom 27. Dezember als Starttermin für die Impfungen in der Zeitung lesen, dann aber erfahren, dass es selbst für viele von ihnen in Wahrheit erst Mitte Januar losgeht. Wenn überhaupt.

Ein problematisches Bild von Europa

Für diese Fehler tragen Merkel und Spahn die Verantwortung. Dieses Durcheinander zu beheben, sollte das wichtigste Anliegen der nächsten Sitzung mit den Ministerpräsidenten sein.

Der Verzicht auf einen deutschen Alleingang bei der Beschaffung des Impfstoffs hat damit aber nichts zu tun, zumal eine deutlich höhere Menge an bestellten Dosen nicht unbedingt eine Gewähr dafür gewesen wäre, dass man auch gleich zu Beginn mehr Impfstoff erhalten hätte. Die Kritik an der Europäisierung der Verhandlungen lässt vielmehr auf ein problematisches Bild von Europa schließen: Gemeinsam, wenn es uns nützt; alleine, wenn Deutschland damit mehr gewinnt, koste es, was es wolle. Das kennt man derzeit eigentlich nur von einigen osteuropäischen Staaten. Der Wettbewerb, der daraus hätte entstehen können, wäre nicht Marktwirtschaft gewesen, sondern ihre Karikatur. Die Verhandlungen auf der Ebene der Staaten zu lassen, wäre nicht Subsidiarität gewesen, sondern ihre Perversion. Und völlig zurecht hätte dann zum Beispiel die Bild-Zeitung vielleicht ein Interview mit Österreichs Kanzler Sebastian Kurz geführt, ihrem Lieblingskronzeugen gegen die Kanzlerin. Schlagzeile: "So macht Merkel unser Europa kaputt."

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