Die Zeit großer Krisen bedeutet für Psychiater eine Zeit mit noch mehr Arbeit. Das erlebt auch der Berliner Psychiater und Stressforscher Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner Klinik in Berlin, in diesen Tagen. Seit den verschärften Kontaktbeschränkungen melden sich immer mehr Menschen bei dem 51-jährigen, weil sie unter den Folgen der verordneten Einsamkeit leiden. Adli, der den Forschungsbereich "Affektive Störungen" an der Charité leitet, beschäftigt sich seit längerem auch mit den Konsequenzen eines Lebens in großen Städten. Darüber entstand auch das Buch "Stress in the City. Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind."
In der jetzigen Krise kommt es laut Adli sehr auf das Verhalten und die Kommunikation der Politik an. Erweckt sie Vertrauen? Handelt sie glaubwürdig? Macht sie Hoffnung? Gibt sie eine Perspektive für danach? Das alles sind Fragen, die gerade jetzt direkte Folgen für seine eigene Arbeit haben.
SZ: Herr Adli, Kontaktbeschränkung und Social Distancing - was macht das mit Ihnen, dem Experten für Stress und seine Folgen?
Mazda Adli: Wie zurzeit viele Menschen, trifft das auch mich persönlich sehr. Wir sind soziale Wesen. Kontaktbeschränkung ist für uns Menschen psychologisch schwer aushaltbar. Niemand hätte sich das vorstellen können: dass wir ausgerechnet in einer solchen Krise auf genau das verzichten müssen, was uns besonders gut durch Krisen hilft: Trost und Zuwendung durch menschliche Nähe.
Was bedeutet es, wenn die Nähe wegfällt?
Die Verbindung zu anderen Menschen, die Geborgenheit im Kontakt zu anderen - all das ist für uns Menschen normalerweise sehr wichtig. Nochmal: wir sind Herdentiere. Menschliche Nähe schützt uns, hält uns gesund. Wenn das wegfällt, fehlt uns etwas sehr Wesentliches, was ein tiefes menschliches Grundbedürfnis ist.
Regierung und Politik haben plötzlich eine noch größere Verantwortung als sonst schon. In welcher Situation sind die Politiker?
Ich erlebe eine Politik, die sich mit fast täglich ändernden Gegebenheiten, auch einem sich täglich ändernden Wissensstand rund um das Infektionsgeschehen auseinandersetzen muss. Und ich muss zugeben, dass es mir Respekt abringt, wie - im positiven Sinne - flexibel und transparent die meisten Politiker damit umgehen und kommunizieren.
Was ist das Außergewöhnliche?
Diese Situation ist für alle außergewöhnlich. Keiner war vorbereitet, keiner hat Erfahrung mit einer solchen, völlig beispiellosen Aufgabe. Zieht man das in Betracht, dann fühle ich mich bei unseren Politikern in der Regierung recht gut aufgehoben. Das hätte ich nicht unbedingt so vorausgesagt.
Was bedeutet es für eine Kanzlerin, einen Minister, eine Ministerpräsidentin, wenn plötzlich das klassisch angeeignete Denken und die üblichen Instinkte überlagert werden durch harte wissenschaftliche Zahlen und Prognosen?
Es zwingt zu einem radikalen wissenschaftsgeleiteten Pragmatismus. Und das geht weit über das hinaus, was sonst üblich ist. Plötzlich muss alles andere, was bislang vermeintlich wichtig erschien - der Wettstreit gegen politische Konkurrenten, Parteiprogramme, die Bedeutung von Atmosphärischem -nach hinten geschoben werden. Stattdessen muss man sich täglich mit einem neuen und ziemlich komplexen Wissenstand auseinandersetzen und auf dieser Grundlage jedes Mal neu überlegen, was jetzt das Beste für die Bevölkerung, das Beste für das Land ist. Das bedeutet nicht, dass jetzt alles auf dem Kopf steht. Aber die Regierung ist gezwungen, traditionelle politische Reflexe zu ignorieren.
Ist das überhaupt zu schaffen?
Im Augenblick habe ich den Eindruck: ja. Ich finde es richtig, mit welchem pragmatischen Blick auf die Realität die Regierung und die meisten Politiker agieren. Aber das erfordert auch, dass man mit einem hohen Maß an Selbstkritik jeden Tag neu in diese Aufgabe einsteigt. Was gestern gegolten hat, ist vielleicht schon heute nicht mehr der richtige Weg. Auch das haben wir in den letzten Tagen ja erlebt: dass Empfehlungen aufgrund neuer Zahlen und Entwicklungen über den Haufen geworfen werden müssen.
Widerspricht das nicht all dem, was wir bisher von Politikern gedacht haben?
Ja, aber es ist das Gebot der Stunde. Und wahrscheinlich auch alternativlos. Auch wenn es international ganz andere Beispiele gibt.
Erhöht das den Druck auf die hiesigen Politiker zusätzlich? Ausgerechnet in dem Augenblick, in dem sie das eigene Tun jeden Tag neu überprüfen sollen, müssen sie begründen, warum sie es nicht machen wie diese anderen, die schnelle Lösungen versprechen oder als autoritäre Herrscher einfach machen.
Der Druck ist immens. Sich selbst hinterfragen bei gleichzeitigem Rechtfertigungsdruck - das verlangt einem sehr viel ab. Und sich auch fehlbar zeigen. Trotzdem ist das die einzig richtige Form, um mit einer solchen Krise umzugehen.
Halten Sie es für problematisch, dass Wissenschaft gerade eine so übergroße Rolle spielt?
Wir erleben gerade vielleicht zum ersten Mal in dieser radikalen Form, dass Politik und Wissenschaft so eng zusammenkommen. Für problematisch halte ich das natürlich nicht. Ganz im Gegenteil: Wissenschaftlichkeit hat Politik noch nie geschadet. Eine wissenschaftlich fundierte Politik spendet Vertrauen
Müssen sich Politiker neu erfinden?
Es zeigt sich gerade jetzt, dass Eigenschaften wie Lernfähigkeit, wie Kritikfähigkeit, wie kognitive Flexibilität unverzichtbare Qualitäten sind, die auch nach dieser Krise zu neuen Werten werden.
Sie sagen, dass das alles derzeit wahrscheinlich alternativlos sei. Es gibt aber immer mehr Leute, die ein tiefes Dilemma spüren, weil der Shutdown einen hohen Preis hat. Menschen haben Angst vor dem Virus, aber auch Angst vor Arbeitslosigkeit, dem Ruin, dem Verlust der Zukunft. Wie dünn ist die Eisschicht, auf der wir uns gerade bewegen?
Die Folgen für die Wirtschaft sind unabsehbar. Viele haben Existenzängste und brauchen unbürokratische Hilfe. Und sie brauchen Zuversicht. Alternativlos ist das pragmatische und wissenschaftlich informierte Vorgehen. Aber was daraus folgt ist nicht alternativlos. Die Antworten können durchaus unterschiedlich ausfallen. Darüber muss man diskutieren, auch vernünftig streiten. Genauso übrigens wie auch in der Wissenschaft.
Politik soll also weiter auch in Konflikte gehen? Oder sollte sie das in der schweren Situation lieber verhindern?
Ich plädiere nicht dafür, dass man das Diskutieren aufhört, also die für uns wichtige Streitkultur aufgibt. In Zeiten einer Krise stellt sich nur mehr denn je die Frage, wie man es macht. Als Psychiater sage ich: Den besten Weg suchen - ja. Die Bevölkerung verunsichern - nein!
Hat Politik in der Krise eine noch größere Transparenz- und Erklärpflicht? Müsste sie noch schärfer kenntlich machen, zwischen welchen Alternativen sie sich entscheidet?
Nehmen Sie die Fernsehansprache der Bundeskanzlerin. Dieses Format ist sicher nicht lang genug, um sämtliche Pros und Contras der jetzigen Lage auszubreiten. Ein solcher Auftritt eignet sich eher zur Präsentation der Schlussfolgerungen. Aber es muss klar sein, auf welcher Grundlage sie gewachsen sind.
Angela Merkel sagte in dieser Fernsehansprache auch, die Lage sei "dynamisch und offen". Das lässt vom Guten bis zum Schlechten alles möglich erscheinen. War das klug?
An der Stelle habe ich auch ein bisschen innehalten müssen. Einerseits ist das Teil der Transparenz, über die wir gerade gesprochen haben. Andererseits muss man sich klarmachen, dass die Menschen im Augenblick sehr verunsichert sind. Deshalb ist es kommunikativ eine enorm schwierige Gratwanderung, die Unsicherheiten zu benennen und gleichzeitig die vorhandene Angst nicht noch größer werden zu lassen.
Beim Ausbruch der Weltwirtschaftskrise sagte Merkel den lapidaren Satz, Deutschland werde aus der Krise stärker rauskommen als es reingegangen sei. Braucht es sowas wieder?
Ehrlich gestanden: Ich hätte von ihr in der Fernsehansprache gerne nochmal ein "Wir schaffen das" gehört. Und zwar so, wie sie es wirklich gemeint hat: Wir alle zusammen schaffen das.
Wie lange kann eine Gesellschaft eine so offene Situation aushalten?
Unvorhersehbarkeit aushalten - das verlangt einer Gesellschaft sehr viel ab. Sie erlebt damit einen Kontrollverlust. Das ist enormer Stress. Aber wir müssen uns klarmachen, dass wir der jetzigen Situation ja nicht nur ausgeliefert sind. Wir lernen täglich mehr über das Virus und die Krankheit, täglich gibt es Fortschritte. Und jeder von uns bewirkt durch das Akzeptieren der Einschränkungen gerade sehr viel, was die Ausbreitung der Infektion angeht. Wir müssen daher dafür sorgen, dass die Menschen und die Gesellschaft an emotionaler Kraft gewinnen. Dass sie mit dem Stress der jetzigen Situation einen Umgang finden können. Wir Psychiater nennen das Resilienz. Das gelingt umso besser je mehr wir Hoffnung haben. Hoffnung ist ein wichtiger Motor für Motivation, um ein schweres Ziel zu erreichen. In unserem Fall: Durch diese Krise zu kommen. Es hilft uns beispielsweise, über die Zeit danach zu sprechen. Die Menschen brauchen die Botschaft: Diese Zeit geht auch vorbei.
Brauchen die Menschen ein Datum?
Ein konkretes Datum lässt sich im Moment kaum setzen. Man würde dann Gefahr laufen, dieses Datum zwei, drei, viermal korrigieren zu müssen. Und das würde das Vertrauen der Menschen gegebenenfalls sogar zerstören. Im Moment sieht alles danach aus, dass die Infektionszahlen erstmal noch größer werden, bevor sie hoffentlich sinken. Umso wichtiger ist eine optimistische Zielsetzung für die Zeit danach. Damit die Menschen das Gefühl haben, dass das, was sie sich gerade abringen, einen Effekt hat. Und ein gutes Ziel.
Würden Sie sich ein Urteil zutrauen, wie lange die Gesellschaft ohne diese Hoffnung die harten Beschneidungen durchhält?
Nein. Ich kann nur sagen: Ohne Perspektive hält so was niemand lange durch. Mit Perspektive deutlich länger. Deshalb würde ich mir wünschen, die Bundeskanzlerin würde noch einmal eine Ansprache halten, in der ein solcher Optimismus zum Ausdruck kommt. Ich glaube, dass das den Menschen sehr gut täte. Selbst wenn sie nichts versprechen kann - es macht Mut, setzt einen Kontrapunkt zur jetzigen Stimmung. Ich weiß, wie schwer solche Aussagen sind. Zumal Politiker später in unpassender Weise auf solche Äußerungen festgenagelt werden. Aber ich glaube, das müsste man politisch in Kauf nehmen. Die Menschen werden es einem danken.
In der Debatte um eine mögliche Ausgangssperre argumentieren die Kanzlerin und andere Politiker, man dürfe deren Folgen nicht unterschätzen. Dann würden in den Familien ganz andere Dinge drohen: Mord und Totschlag im schlimmsten Fall. Sehen Sie das genauso?
Je länger wir mit mehreren Menschen auf begrenztem Raum unter einem Dach verbringen müssen, desto größer wird die Gefahr von Konflikten. Wenn jetzt Existenzängste in den Familien dazukommen, dann ist das Risiko für Konflikte, häusliche Auseinandersetzungen und leider auch Gewalt nicht zu unterschätzen.
Was tun?
Man muss sich im Augenblick ganz bewusst in Kompromissbereitschaft üben. Nicht auf den eigenen Standpunkt beharren; Konflikte nicht dann austragen, wenn man sich gerade besonders ärgert, sondern erst dann, wenn die Anspannung gesunken ist. Oder auch mal bewusst nachgeben. Wenn die Wellen tatsächlich mal hochschlagen, sollte man sich lieber zurückziehen. Den Raum verlassen. Statt die Auseinandersetzung zu eskalieren.
Sie forschen seit langem über das Leben in großen Städten und was das mit den Menschen macht. Was hat diese Krise mit der Stadt zu tun?
In der Stadt zeigen sich die einschneidenden Veränderungen unseres Alltags derzeit in besonderem Ausmaß. Die Gefahr der Ansteckung; die Leere auf der Straße; die Einsamkeit zuhause. Ein Drittel aller Menschen in Berlin lebt alleine. Das bedeutet: Sie trifft das sogenannte Kontaktverbot besonders hart. Das, was die Stadt sonst ausmacht, ihre Lebendigkeit, die Kultur, all das fällt weg. Und die Kompaktheit, die sonst ein Vorteil ist, empfinden jetzt viele Menschen als bedrohlich.
Überfällt Sie manchmal selbst Angst? Oder wirkt es wie ein besonders reizvolles Forschungsprojekt?
Natürlich mache ich mir Sorgen, wenn ich sehe, wie sehr sich unser Alltag über Nacht gewandelt hat. Auch wenn ich erlebe, wie groß die existenziellen Ängste für viele Menschen werden. Was wir gerade erleben, ist nicht nur eine Pandemie, sondern eine psychologische Krise, aus der viele Ängste erwachsen. Als Wissenschaftler frage ich mich natürlich auch, was das mit unserer Gesellschaft macht, auch langfristig. Als Psychiater suche ich nach Wegen, mit nachvollziehbarer Angst einen Umgang zu finden und katastrophisierende Gedanken abzubauen.
Wie könnten diese Wege aussehen?
Über die Angst mit anderen sprechen, mit Freunden, mit Familie oder mit Kollegen. Wenn wir unter starker Angst leiden, hilft es zu sehen, wie andere vielleicht eine besonnenere Haltung einnehmen. In der Psychotherapie spricht man von Perspektivwechsel.
Die sogenannten sozialen Netzwerke schienen zuletzt vieles davon ersetzen zu können. Lernen wir gerade, dass das nicht reicht?
Im Moment suchen wir alle nach digitalen Wegen, um den sonst üblichen menschlichen Kontakt zu ersetzen. Und wir merken auch, wie schwierig das manchmal ist. Ich selber habe gerade zum ersten Mal eine Chor-Probe über Video gemacht. Das war gar nicht mal so schlecht. Aber es kann den direkten Kontakt nicht kompensieren. Aber wir sehen auf der anderen Seite auch, was für ein Segen die Online-Kommunikation gerade jetzt ist; anders wäre die momentane Situation wohl nur ganz schwer zu bewältigen.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten - welcher wäre das?
Wir sind gerade alle zwangsentschleunigt. Dabei fallen viele zum ersten Mal seit langem aus dem Hamsterrad des Alltags. Ich sehe auch: Plötzlich tun viele Menschen Dinge, die sie schon lange tun wollten, aber dann doch nicht gemacht haben. Musizieren steht gerade hoch im Kurs, wenn ich mich in meinem Umfeld umhöre. Andere fangen an zu joggen, weil sie das draußen machen dürfen. Und sehr viele kümmern sich um Freunde und Angehörige. Auch jene, mit denen sie schon lange keinen Kontakt mehr hatten. Wenn diese Solidarität bleibt, wäre es großartig.