Ross Anthony, 42, ist Xinjiang-Experte. Anderthalb Jahre verbrachte er in der Region. Bis 2018 war er Direktor des Zentrums für Chinastudien an der Stellenbosch University in Südafrika. Derzeit lebt er in Nairobi und forscht zum Einfluss Chinas in Afrika.
SZ: Herr Anthony, Volkswagen hat 2013 in Urumqi, der Hauptstadt Xinjiangs, ein Werk eröffnet und stellt seitdem dort Autos her. Eine richtige Entscheidung?
Ross Anthony: Ökonomisch wohl kaum. Dort werden angeblich etwa 50 000 Fahrzeuge pro Jahr hergestellt, das klingt nicht sonderlich profitabel. Dennoch: Vor sechs Jahren, als das Werk die Produktion aufnahm, hätte ich gesagt, wenn Volkswagen eine Einstellungsquote für Uiguren befolgt, hilft eine solche Fabrik mehr, als dass sie schadet, weil endlich Uiguren in Arbeit kommen und die sozialen Probleme, die ursächlich für den Konflikt in der Region sind, zumindest ein wenig abgemildert werden. Aber heute mit Hunderten Internierungslagern in Xinjiang und mehr als einer Million eingesperrten Uiguren ist das Werk ein einziger Schandfleck. Was zum Teufel hat Volkswagen in diesem Polizeistaat verloren?
Die Antwort des Unternehmens lautet, man bemühe sich, "einen Beitrag zur Entwicklung der Region und zum Zusammenleben der dortigen Volksgruppen zu leisten". Warum macht Volkswagen das?
Die Antwort ist simpel: Es geht Volkswagen mutmaßlich ums Geld. China ist der größte Markt für das Unternehmen, deshalb schaut der Konzern nicht so genau hin. Nehmen wir einmal an, ein Lagersystem dieses Ausmaßes würde in einem anderen Staat existieren, der Aufschrei der internationalen Gemeinschaft wäre gewaltig. Weil es aber um China geht, schweigen Unternehmen wie Volkswagen, genauso übrigens wie die muslimische Welt, mehr als 50 Staaten haben sich jüngst gar mit Peking solidarisch erklärt. Die Volksrepublik ist ein Milliardenmarkt, den niemand freiwillig aufgeben möchte.
Wer Kritik übt, muss um sein Geschäft fürchten?
Aber ja, der Einfluss der chinesischen Regierung reicht weit. Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Als ich vor einem Jahr ein Visum beantragen wollte, wurde mir von der chinesischen Botschaft in Südafrika mitgeteilt, dass ich in meinen Kursen an der Universität in Stellenbosch nur über das neue China lehren solle.
Das neue China?
Ich sollte über den atemberaubenden wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik sprechen, nicht mehr über die Kulturrevolution oder den "Großen Sprung nach vorne". Die größte Hungerkatastrophe der Menschheitsgeschichte mit mehr als 40 Millionen Toten, verursacht von der Kommunistischen Partei Chinas, sollte ich in meinen Seminaren weglassen, forderte die Botschaft. Seitdem kann ich nicht mehr nach China reisen.
2007 und 2008 haben Sie für Feldstudien in Urumqi gelebt. Ließ sich damals schon erahnen, dass gut zehn Jahre später Hunderttausende Uiguren in Lagern weggesperrt werden?
Das konnte man nicht vorhersehen, unmöglich. Ich habe damals in jenem Teil der Stadt gewohnt, in dem das Uiguren-Viertel an die Siedlungen der Han-Chinesen, der größten Ethnie, grenzte. Die Angst, aber auch die Frustration der meisten Uiguren war gewaltig. Sie fanden keine Arbeit, die Unternehmen stellten lieber Han-Chinesen ein. An den Schulen und Universitäten wurde der Uigurisch-Unterricht zurückgefahren. Es war wie in einem Schnellkochtopf, der Druck stieg von Tag zu Tag, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es zur Konfrontation kam. Das passierte dann 2009.
Fast 200 Menschen starben bei Ausschreitungen in Urumqi.
Statt die Ursachen zu bekämpfen und die Uiguren am Wirtschaftswachstum teilhaben zu lassen, wurde die Überwachung gnadenlos hochgefahren und mit jedem weiteren Anschlag verstärkt. Ich frage mich, wo soll das enden? Die chinesische Führung kann doch nicht ernsthaft glauben, dass sie mit diesen Lagern neue Menschen formt, die die Propaganda nachplappern und ihre Kultur verleugnen. Werden diese Umerziehungslager also noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte existieren? Ich fürchte das Schlimmste.
Sie selbst sind während der Apartheid in Südafrika aufgewachsen. Ist das, was in Xinjiang derzeit passiert, ähnlich?
Auf dem Papier haben die Uiguren viel mehr Rechte, als die Schwarzen in Südafrika sie während der Apartheid je hatten. In der Theorie können Minderheiten in einer Autonomen Region, wie Xinjiang sie offiziell ist, darüber entscheiden, welche Sprache gesprochen und welche Kultur gefördert wird. Im Prinzip haben sie auch Einfluss auf die Wirtschaftsförderung der Region. Die Wahrheit ist eine andere: Han-Chinesen entscheiden und behandeln Xinjiang wie eine Kolonie. Daher ist der Vergleich schon sehr treffend, und mit jedem neuen Lager, mit jeder neuen Verhaftungswelle wird er immer treffender.
Nun aber gibt es erstmalig ein Leak aus dem chinesischen Apparat, die China Cables, wie bewerten Sie das?
So etwas habe ich vorher noch nicht gesehen. Wenn in einem streng autoritären System wie in China auf einmal geheime Dokumente durchgestochen werden, dann müssen die Menschenrechtsverletzungen sehr, sehr schlimm sein.
Was heißt das für Volkswagen und das Werk in Urumqi?
Niemand kann mehr sagen, von nichts gewusst zu haben. Das Werk sollte dichtgemacht werden. So schnell wie möglich.