Merkel im Bundestag:"Auf eine außergewöhnliche Krise haben wir als EU eine außergewöhnliche Antwort gegeben"

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Seit 16 Jahren ist Angela Merkel die deutsche Bundeskanzlerin. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Im Parlament gibt die Bundeskanzlerin ihre vermutlich letzte Regierungserklärung ab, nüchtern und routiniert. Darauf antwortet unter anderem CDU-Chef Laschet - seine erste Rede dort seit fast einem Vierteljahrhundert.

Von Joshua Beer

Nüchtern und routiniert hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an diesem Donnerstag im Bundestag ihre voraussichtlich letzte Regierungserklärung in ihrer bald 16-jährigen Amtszeit abgegeben. Sie legte den Abgeordneten vor allem die Themen dar, die am Nachmittag bei dem in Brüssel beginnenden EU-Gipfel der 27 Staats- und Regierungschefs behandelt werden sollen. Dass dies ihre letzte Rede sein könnte, erwähnte sie mit keinem Wort.

So werde der Europäische Rat das digitale-Covid-Zertifikat der EU diskutieren, das vom 1. Juli an verbindlich gelten soll und Merkel zufolge einen europaweiten Standard für Geimpfte, Genesene und Getestete schaffe. Zudem spiele der Impffortschritt eine Rolle sowie die gezielte Verteilung von Impfstoffen an ärmere Länder, die schon auf dem G-7-Gipfel angepeilt wurde. Der Rat wolle außerdem erste Lehren aus der Krise ziehen und darüber sinnieren, wie sich Europa nach der Pandemie erholen kann. Den Weg dafür soll der europäische Aufbauplan "Next Generation EU" bereiten, mit dem man Versäumtes nachholen könne. Schwerpunkte seien die "grüne Erneuerung und die Digitalisierung". Im Hinblick auf die Pandemie sagte Merkel: "Auf eine außergewöhnliche Krise haben wir als EU eine außergewöhnliche Antwort gegeben."

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In der Corona-Pandemie dürfe man in Europa "vorsichtig optimistisch sein", es gebe mehr Geimpfte und weniger Neuinfektionen, so Merkel. Sie mahnte aber: "Vorbei ist die Pandemie noch nicht", weder in Europa und schon gar nicht in ärmeren Ländern. Die Delta-Variante des Virus müsse man wachsam beobachten.

Darüber hinaus betonte Merkel, trotz "gravierender Differenzen" im Bereich der Grund- und Menschenrechte den "Dialog mit der Türkei" zu suchen und den Migrationspakt zu erneuern. Auch müsse man den direkten Kontakt zu Russland herstellen. Es reiche nicht, wenn nur US-Präsident Joe Biden den russischen Staatschef Wladimir Putin trifft. Apropos USA: Mit Biden sei laut Merkel ein neues Kapitel der transatlantischen Beziehungen geöffnet worden und deren Kern bilde die Nato, "der unersetzliche Garant für Sicherheit und Stabilität in Europa". Merkel sagte: "Deutschland wird seinen Beitrag leisten, politisch und militärisch".

Weidel provoziert, Lindner würdigt die Kanzlerin

Als Fraktionschefin der größten Oppositionspartei im Bundestag durfte Alice Weidel von der AfD als erste auf Merkels Regierungserklärung antworten. Sie griff die Kanzlerin erwartungsgemäß scharf an, begleitet von Zwischenrufen. Ihre 16-jährige Amtszeit sei von politischen Fehlentscheidungen geprägt, unter denen jene der Migrations- und Coronapolitik hervorstächen. Weidel übte Kritik an der geplanten Verlängerung des Migrationsdeals mit der Türkei, da sich Deutschland damit vom türkischen Präsidenten abhängig mache.

Weidel behauptete, dass der Corona-Lockdown "keine messbaren Vorteile" gebracht habe, er habe nur die Wirtschaft, die Gesellschaft und den Mittelstand schwer beschädigt. "Dieser Irrweg darf sich im Herbst, wenn sich die Virusaktivität wieder saisonal bedingt verstärken wird, nicht wiederholen", sagte Weidel.

Ihr folgte Olaf Scholz, Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat, ans Rednerpult. Er lobte Europa dafür, "nach anfänglichem Ruckeln eine gemeinsame Antwort" auf die Pandemie gefunden zu haben. Das habe zu der Erkenntnis geführt, dass man auf dieser Erde nicht als einzelnes Land zurechtkommen könne. "Europa ist politisch, Europa muss politische Fragen lösen", sagte Scholz. Fragen zum Binnenmarkt und Migration etwa. Mit Russland müsse man es schaffen, eine gemeinsame Sicherheit auf dem Kontinent zu entwickeln. Die in der Krise aufgenommenen Kredite seien richtig gewesen, betonte Scholz. Man müsse sie aber auch zurückzahlen.

Christian Lindner, Vorsitzender der FDP, begann seine Rede damit, die Regierungszeit der Kanzlerin zu würdigen: "Sie haben in den vergangenen 16 Jahren Ihre Kraft und Ihre intellektuellen Gaben stets uneigennützig in den Dienst Deutschlands und Europas gestellt." An Alice Weidel gerichtet: Sie habe beim Thema der politischen Fehlentscheidungen vergessen, den Beschluss des AfD-Bundesparteitags, aus der EU austreten zu wollen, zu erwähnen. "Frau Weidel, Sie hätten auch auf Ihre Rede verzichten können", sagte er.

Laschet erlebt eine Premiere nach langer Abstinenz

Aus Olaf Scholz' Rede habe Lindner herausgehört, dass "Schulden machen die neue Staatsphilosophie" in Deutschland und der EU sei und das dürfe nicht sein. "Staatsschulden sind eine Gefahr für die europäische Finanz- und Währungsunion." Außerdem monierte er die häufigen Alleingänge Deutschlands auch in der Klimapolitik, wo man dringend mehr "europäische Gemeinsamkeit" brauche.

Armin Laschet, CDU-Chef und Unionskanzlerkandidat, erlebte in der Aussprache zu Merkels Regierungserklärung eine Premiere nach langer Abstinenz. Er hält seine erste Rede im Parlament seit gut 23 Jahren. Laschet war von 1994 bis 1998 Bundestagsabgeordneter, er hatte zuletzt am 23. April 1998 im Plenum gesprochen. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident ergriff für die Union als Bundesratsmitglied das Wort.

Das nutzte er, um zu Beginn der Rede festzustellen: "Heute ist der 24. Juni" - womit er auf die Blockade Berlins hinauswollte, die am 24. Juni 1948 durch die Sowjetunion begann. Die berühmte Luftbrücke in die Stadt sei "Inbegriff der ausgestreckten Hand" der USA und der Alliierten generell gewesen. Dies, so Laschet, beweise, dass Teilung und Konfrontation keine Chance hätten, wenn liberale Demokratien zusammenarbeiten. "Das ist die Grundlage des Wohlstands und der Erfolg unseres Landes", sagte Laschet.

"Es war nicht nur Herr Söder!"

Die Pandemie habe Laschet zufolge gezeigt, dass man an einem Epochenwechsel stehe: "Wir brauchen Europa mehr als je zuvor." Man müsse sich aber aus der Abhängigkeit von fremden Mächten - womit er vor allem China meinte - befreien und in der Union autark werden, etwa was die Impfstoffherstellung angehe. Er stellte noch einen Makel fest, nämlich den alten Reflex, bei Krisen in nationalstaatliches Denken zu verfallen. Die Grenzen in Europa zu Beginn der Pandemie einfach zu schließen, anstatt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, das sei ein Fehler gewesen. Dies brachte Laschet den Zwischenruf eines Abgeordneten ein, der in diesem Zusammenhang auf Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder verwies. Laschet daraufhin: "Es war nicht nur Herr Söder, es war auch Herr Kretschmann und es waren ein paar mehr!" Sie hätten alle daraus gelernt.

Die Verlängerung des Migrationspaktes mit der Türkei begrüßte Laschet. Am Schluss seiner Rede pries er Europa noch als eine Lebenseinstellung und versicherte: "Von Nationalisten und Populisten lassen wir uns dieses Europa nicht kaputt machen."

Von den Linken sprach Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch. Er griff Laschets Kritik am nationalstaatlichen Reflex in der Pandemie auf und verschärfte sie. Man habe die große "Gefahr der unendlich vielen Alleingänge" gespürt. Impfdosen nun an ärmere Länder zu spenden, sei ja löblich, aber die Patente auf die Impfstoffherstellung zweitweise auszusetzen, im Grunde wirkungsvoller. Auch solle man doch die "Profiteure der Krise" mit einer europaweiten Vermögensabgabe zur Kasse bitten, nämlich die Multimillionäre und -milliardäre, die während der Pandemie noch reicher geworden sind. Merkel sprach er zur Corona-Krise direkt an: "Sie haben vielfach Schlimmeres verhindert, das ist die Wahrheit, aber ich glaube, das ist letztlich zu wenig."

Baerbock: "Es geht ja hier nicht um Bewerbungsreden"

Die Migrationspolitik Europas ist für Bartsch fatal, beziehungsweise auch gar nicht in einer gemeinsamen Form existent: "Jede Woche ertrinken Menschen im Mittelmeer, werden in libyschen Lagern Menschen gequält und erniedrigt." Das sei eine europäische Bankrotterklärung.

Nach Bartsch trat die Grünen-Chefin und Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock vor das Plenum. Auch sie begann mit einer Würdigung Merkels: "Sehr sehr viele Menschen in diesem Land sind dankbar dafür, dass Sie in Krisensituationen in den letzten 16 Jahren dieses Europa zusammengehalten haben, gerade auch gegen große Widerstände aus Ihrer eigenen Fraktion, besonders Ihrer Schwesterpartei." Dann schwenkte sie auf das Kernthema ihrer Partei um und lobte den "Green Deal" der EU, doch es fehle der Wille, "ihn mit Leben zu füllen". Das liege, so Baerbock, am Blockierer Deutschland, der sich auch gegen Pläne des europäischen Aufbauplans sperre. Die EU und Deutschland müssten endlich ernsthaft in Europas Zukunft investieren, um klimagerechten Wohlstand zu schaffen. "Es geht ja hier schließlich um den Europäischen Rat und den Recovery-Plan und nicht um Bewerbungsreden", sagte sie.

Der Bundestag beriet am Donnerstag außerdem über den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vor fünf Jahren.

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