SZ-Leser über große Koalition:"Die schwächsten ersten 100 Tage einer deutschen Regierung"

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Bundesregierung: Horst Seehofer, Angela Merkel und Olaf Scholz nach Bildung der großen Koalition

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zwischen Horst Seehofer (CSU) und Olaf Scholz (SPD)

(Foto: Getty Images)

Leser der "Süddeutschen Zeitung" ziehen Bilanz: Zufrieden mit der Arbeit von Union und SPD sind die wenigsten, besonders Merkel und Seehofer werden kritisiert.

Von Vera Deleja-Hotko und Franziska Dürmeier

Seit 100 Tagen regiert die große Koalition. Von ihren 134 Versprechen im Koalitionsvertrag wurden bisher fünf umgesetzt, 22 sind in Arbeit. Bei der Zusammenarbeit kriselt es extrem: Zwischen CDU und CSU ist in der Flüchtlingsfrage ein so massiver Konflikt ausgebrochen, dass bereits offen über den Bruch der Koalition diskutiert wurde. Und die SPD? Sie schaut fassunglos zu und kämpft mit sich sowie miserablen Umfragewerten.

Doch wie sehen es die Wähler? Beurteilen auch sie die Arbeit der Bundesregierung so kritisch wie die Medien? Die Süddeutsche Zeitung hat Leser gefragt, wie sie die ersten 100 Tage beurteilt. Die Auswertung dieser Zuschriften zeigt: Zufrieden sind die wenigsten. Im Zuge parteiinterner Streitigkeiten würden wichtige Themen vernachlässigt, kritisieren sie. Hier werden vor allem die CSU mit Bundesinnenminister Horst Seehofer genannt. Doch auch die SPD erfüllt oft nicht die Erwartungen:

"Ich bin nicht zufrieden mit der Groko, obwohl ich seit sechs Jahren SPD-Mitglied bin. Ich glaube, keiner meiner Generation kann zufrieden sein, mit dem, was gerade innenpolitisch passiert - oder was eben nicht passiert. Nämlich uns Bürgern die Antworten auf die relevanten Fragen der Gesellschaft zu geben. Oder zumindest den Diskurs mit uns zu suchen. Ich habe das Gefühl, dass sich viele der Politiker mit Dingen aufhalten, die keine Relevanz für die Zukunft haben. Mir fehlen Mut und Weitsicht." (Sepehr Yar Moammer)

"Die ungewöhnlich lange Dauer der Regierungsbildung hat zu den jetzigen Turbulenzen beigetragen. Dieses politische Vakuum hat - neben der Furcht vor der Landtagswahl - die CSU derart in Aufregung versetzt, dass sie offenbar das Scheitern der Regierung in Kauf nimmt. Ohne einen Masterplan für die Zeit danach zu haben. Die SPD tut einstweilen, was sie in der vorherigen Groko bereits getan hat: Vereinbarte Vorhaben angehen und umsetzen, ohne, dass das ihnen bei den Wählern Punkte bringt. Die Arbeit der Groko ist schlecht und besorgniserregend für die Zukunft Deutschlands." (Johan Crasemann)

"Wir sind dort gestrandet, wo wir schon einmal waren"

"Es fehlen alternative Weitblicke und Entscheidungen, die länger anhalten als eine Legislaturperiode. Zu viele Selbstdarsteller in der Regierung und zu wenige Macher. Wir können auf CDU, SPD und Grüne vertrauen. Der Rest bewegt sich außerhalb der Pfade, die wir, die Bürger, brauchen. Das waren die schwächsten 100 ersten Tage einer deutschen Regierung." (Jörg Majoli)

"Aus meiner Sicht fehlen Visionen für eine friedliche Welt. Die Politik ist immer noch besessen von einer mittelalterlichen Vision von Schwarz-Weiß, Gut-Böse, Ost-West. Deutschland hätte so viele kluge und besonnene Köpfe, die anpacken könnten. Die Politik müsste sich nur von jenen trennen, die sich aus Machtgier profilieren wollen und jenen den Vortritt geben, die Zukunftsvisionen haben. Schade. Es war ein hoffnungsvoller Start. Aber wir sind wieder dort gestrandet, wo wir schon einmal waren." (Edy Leisibach)

Besonders frustriert sind die Leser darüber, dass wichtige Herausforderungen nicht angegangen werden. Handlungsdruck sehen sie etwa bei der Alten- und Krankenpflege, bei Problemen wie Altersarmut, dem Steuersystem, in den Bereichen Bildung und Digitalisierung sowie in der internationalen Handels- und Friedenspolitik sowie Entwicklungshilfe.

"Ich könnte kaum enttäuschter von der Regierungsarbeit sein. Anstatt sich aktuellen Problemen zu widmen, werden Themen von vor drei Jahren behandelt. Es mangelt an über 80 000 Krankenpflegeplätzen, an 63 000 Altenpflegekräften und 300 000 Kitaplätzen. Stattdessen bricht man einen Asylstreit vom Zaun, bei dem es um nicht mehr als 15 000 Personen pro Monat geht. Die Inhalte der AfD dominieren und verlangsamen die Regierungsarbeit. Die größten Probleme der Innenpolitik bleiben drastisch auf der Strecke. Und lassen keinen Moment an humanitären Optionen zu." (Lukas Arndt)

"In der Bundesregierung hat die CSU keinen Platz mehr"

"Die Groko befasst sich vor allem mit sich selbst. Jens Spahn teilt über alle Ressortgrenzen hinweg aus, die SPD betreibt seit dem mageren Abschneiden bei der Bundestagswahl Nabelschau und die Union verhakt sich zu einer Sommer-Politesse. Das Flüchtlingsthema betoniert viel wichtigere Themen, wie Gesundheit, Bildung, Familie und Digitalisierung." (Thomas Tesch)

"Ich bin definitiv nicht zufrieden. So wichtig die Asyldebatte ist, dreht sich die Welt auch noch um andere Dinge. Aber das einzige, was die Union und speziell die CSU tut, ist der Politik der AfD hinterher zu rennen. Es gibt genug andere Probleme - etwa Schulpolitik, Außenpolitik oder die lang versprochene Steuerreform. Die ersten 100 Tage Groko fühlen sich an wie ein unterbrochener Hickhack auf allen Ebenen. Die Bundesregierung scheint erschöpft und nicht auf dem Stand der Zeit, auf dem sie sein sollte." (Lucas Schleicher)

"Anstatt sich um die wirklichen Probleme zu kümmern, also um Pflegenotstand, Altersarmut, internationale Handels- und Friedenspolitik, Entwicklungshilfe etc., hat die CSU nur zwei Themen: AfD und Flüchtlinge. Es reicht völlig, wenn die CSU in Bayern ihre Spielchen treibt, die Bevölkerung aufhetzt und Kreuze aufhängt anstatt Schulen zu sanieren oder das Internet auszubauen. In der Bundesregierung hat die CSU keinen Platz mehr." (Astrid Poppenwimmer)

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