Seit 100 Tagen regiert die große Koalition. Von ihren 134 Versprechen im Koalitionsvertrag wurden bisher fünf umgesetzt, 22 sind in Arbeit. Bei der Zusammenarbeit kriselt es extrem: Zwischen CDU und CSU ist in der Flüchtlingsfrage ein so massiver Konflikt ausgebrochen, dass bereits offen über den Bruch der Koalition diskutiert wurde. Und die SPD? Sie schaut fassunglos zu und kämpft mit sich sowie miserablen Umfragewerten.
Doch wie sehen es die Wähler? Beurteilen auch sie die Arbeit der Bundesregierung so kritisch wie die Medien? Die Süddeutsche Zeitung hat Leser gefragt, wie sie die ersten 100 Tage beurteilt. Die Auswertung dieser Zuschriften zeigt: Zufrieden sind die wenigsten. Im Zuge parteiinterner Streitigkeiten würden wichtige Themen vernachlässigt, kritisieren sie. Hier werden vor allem die CSU mit Bundesinnenminister Horst Seehofer genannt. Doch auch die SPD erfüllt oft nicht die Erwartungen:
"Ich bin nicht zufrieden mit der Groko, obwohl ich seit sechs Jahren SPD-Mitglied bin. Ich glaube, keiner meiner Generation kann zufrieden sein, mit dem, was gerade innenpolitisch passiert - oder was eben nicht passiert. Nämlich uns Bürgern die Antworten auf die relevanten Fragen der Gesellschaft zu geben. Oder zumindest den Diskurs mit uns zu suchen. Ich habe das Gefühl, dass sich viele der Politiker mit Dingen aufhalten, die keine Relevanz für die Zukunft haben. Mir fehlen Mut und Weitsicht." (Sepehr Yar Moammer)
"Die ungewöhnlich lange Dauer der Regierungsbildung hat zu den jetzigen Turbulenzen beigetragen. Dieses politische Vakuum hat - neben der Furcht vor der Landtagswahl - die CSU derart in Aufregung versetzt, dass sie offenbar das Scheitern der Regierung in Kauf nimmt. Ohne einen Masterplan für die Zeit danach zu haben. Die SPD tut einstweilen, was sie in der vorherigen Groko bereits getan hat: Vereinbarte Vorhaben angehen und umsetzen, ohne, dass das ihnen bei den Wählern Punkte bringt. Die Arbeit der Groko ist schlecht und besorgniserregend für die Zukunft Deutschlands." (Johan Crasemann)
"Wir sind dort gestrandet, wo wir schon einmal waren"
"Es fehlen alternative Weitblicke und Entscheidungen, die länger anhalten als eine Legislaturperiode. Zu viele Selbstdarsteller in der Regierung und zu wenige Macher. Wir können auf CDU, SPD und Grüne vertrauen. Der Rest bewegt sich außerhalb der Pfade, die wir, die Bürger, brauchen. Das waren die schwächsten 100 ersten Tage einer deutschen Regierung." (Jörg Majoli)
"Aus meiner Sicht fehlen Visionen für eine friedliche Welt. Die Politik ist immer noch besessen von einer mittelalterlichen Vision von Schwarz-Weiß, Gut-Böse, Ost-West. Deutschland hätte so viele kluge und besonnene Köpfe, die anpacken könnten. Die Politik müsste sich nur von jenen trennen, die sich aus Machtgier profilieren wollen und jenen den Vortritt geben, die Zukunftsvisionen haben. Schade. Es war ein hoffnungsvoller Start. Aber wir sind wieder dort gestrandet, wo wir schon einmal waren." (Edy Leisibach)
Besonders frustriert sind die Leser darüber, dass wichtige Herausforderungen nicht angegangen werden. Handlungsdruck sehen sie etwa bei der Alten- und Krankenpflege, bei Problemen wie Altersarmut, dem Steuersystem, in den Bereichen Bildung und Digitalisierung sowie in der internationalen Handels- und Friedenspolitik sowie Entwicklungshilfe.
"Ich könnte kaum enttäuschter von der Regierungsarbeit sein. Anstatt sich aktuellen Problemen zu widmen, werden Themen von vor drei Jahren behandelt. Es mangelt an über 80 000 Krankenpflegeplätzen, an 63 000 Altenpflegekräften und 300 000 Kitaplätzen. Stattdessen bricht man einen Asylstreit vom Zaun, bei dem es um nicht mehr als 15 000 Personen pro Monat geht. Die Inhalte der AfD dominieren und verlangsamen die Regierungsarbeit. Die größten Probleme der Innenpolitik bleiben drastisch auf der Strecke. Und lassen keinen Moment an humanitären Optionen zu." (Lukas Arndt)
"In der Bundesregierung hat die CSU keinen Platz mehr"
"Die Groko befasst sich vor allem mit sich selbst. Jens Spahn teilt über alle Ressortgrenzen hinweg aus, die SPD betreibt seit dem mageren Abschneiden bei der Bundestagswahl Nabelschau und die Union verhakt sich zu einer Sommer-Politesse. Das Flüchtlingsthema betoniert viel wichtigere Themen, wie Gesundheit, Bildung, Familie und Digitalisierung." (Thomas Tesch)
"Ich bin definitiv nicht zufrieden. So wichtig die Asyldebatte ist, dreht sich die Welt auch noch um andere Dinge. Aber das einzige, was die Union und speziell die CSU tut, ist der Politik der AfD hinterher zu rennen. Es gibt genug andere Probleme - etwa Schulpolitik, Außenpolitik oder die lang versprochene Steuerreform. Die ersten 100 Tage Groko fühlen sich an wie ein unterbrochener Hickhack auf allen Ebenen. Die Bundesregierung scheint erschöpft und nicht auf dem Stand der Zeit, auf dem sie sein sollte." (Lucas Schleicher)
"Anstatt sich um die wirklichen Probleme zu kümmern, also um Pflegenotstand, Altersarmut, internationale Handels- und Friedenspolitik, Entwicklungshilfe etc., hat die CSU nur zwei Themen: AfD und Flüchtlinge. Es reicht völlig, wenn die CSU in Bayern ihre Spielchen treibt, die Bevölkerung aufhetzt und Kreuze aufhängt anstatt Schulen zu sanieren oder das Internet auszubauen. In der Bundesregierung hat die CSU keinen Platz mehr." (Astrid Poppenwimmer)
Die CSU wird von vielen Lesern als das größte Hindernis für eine erfolgreiche Regierungsarbeit wahrgenommen:
"Das Verhalten von Seehofer und den anderen Ministern der CSU zeigt leider, dass es um die mühsam ausgehandelten Kompromisse des Koalitionsvertrages sehr schlecht bestellt ist. Es verstärkt sich meines Erachtens der Eindruck, dass jeder gegen jeden agiert. Dabei wird ein Machkampf inszeniert, der unser Land nicht weiter bringt. Ob die CSU die Landtagswahl in Bayern mit diesen Auftritten gewinnen kann, wird sich zeigen. Leider ist es zur Zeit in der Politik üblich, verbalen Entgleisungen den Vorzug zu geben anstatt Vernunft walten zu lassen und zur Sacharbeit zurückzukehren." (Marion Detzler)
"Die Arbeit der Groko wird von dem Gepolter der CSU komplett in den Hintergrund gedrängt. Die CSU, insbesondere Söder und Seehofer, sollten aufhören, sich an Franz Josef Strauß und der AfD abzuarbeiten und nach vorne gerichtete, von christlichen Werten geprägt und Europa bekennende, Politik betreiben." (Sandra Knospe)
"Ich bin sehr unzufrieden, weil diverse Politiker wie Jens Spahn und alle CSU-Politiker den Regierungsauftrag als Instrument zur Selbstinszenierung sehen und ihn für persönliche oder machtpolitische, inhaltsreiche Spielchen missbrauchen." (Lore Klipp)
SPD in der großen Koalition:Sehnsucht nach Strahlkraft
100 Tage ist die Bundesregierung im Amt. Wer es bei all dem Gepolter zwischen CDU und CSU vergessen hat: Auch die SPD gehört ihr an, wenngleich das gerade nicht so auffällt. Wie die Sozialdemokraten ihr altes Dilemma auflösen könnten.
"Die Groko steht vor dem Ende"
"Die CSU kommt ihren Pflichten aus Koalitionsvertrag nicht nach. Sie hat sich selbst aus dem Team herauskatapultiert und schadet der Regierung und dem Land. Möglicherweise ist sie nicht regierungsfähig. Eine Partei, die immer nach Recht und Ordnung ruft, sollte auch daran gemessen werden. Artikel 65 im Grundgesetz billigt dem Kanzler/der Kanzlerin eine Richtlinienkompetenz zu. Entweder kennen Seehofer und die CSU die nicht oder sie erkennen diese nicht an. Falls das so ist, sollte er schnellstens entlassen werden. Neuwahlen oder eine neue Koalition? Wir schaffen das!" (Klaus Mairhöfer)
Zwei Leser sehen die große Koalition angesichts der Streitigkeiten gleich ganz gescheitert:
"Von Anfang an hat die CSU die innerkoalitionäre Opposition gespielt oder die Führungsrolle beansprucht. Beides kann nicht funktionieren. Seehofer mag Merkel mit dem Nasenring durch die Manege führen, aber mit der SPD wird ihm das nicht gelingen. Die Groko steht vor dem Ende." (Hans G. Angrick)
"Meiner Meinung nach gibt es keine Groko zurzeit. Es gibt nur Auseinandersetzungen zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer. Und die SPD ist nicht mehr anwesend." (Günter Heberlein)
"Uns in Deutschland geht es besser als den meisten Menschen auf der Welt"
Ein unentschlossener Leser nennt zwar ähnliche Probleme wie die Anderen, aber er betont den hohen deutschen Lebensstandard:
"Das größte Problem liegt im Ressort von Horst Seehofer. Es betrifft jedoch nicht den Zustrom von Migranten, sondern die Art, wie man mit diesen Menschen umgeht. Sicher wird ein großer Teil bei uns bleiben und unsere Gesellschaft bereichern, ein weiterer Teil wird zurück in die Heimat gehen und vieles von uns mitnehmen. Dies sollte jedoch nicht Ablehnung und Aggressivität sein. Wenn wir als Toleranz und menschliche Werte vorleben, ist das die beste Investition in die Zukunft. Es gäbe viel mehr zu tun: Luftverschmutzung in Großstädten, Rente, Steuer, Sozialsystem und so weiter. Aber selbst, was im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, steht nicht im Mittelpunkt der Groko. Dort stehen Egozentriker der CSU, die Deutschland regieren wollen. Aber uns geht es hierzulande besser als den meisten Menschen auf der Welt. Mit der Groko zufrieden? Das hängt vom Betrachter ab." (Thomas Schrägle)
Es gibt aber auch SZ-Leser, die durchaus zufrieden sind und sich zuversichtlich zeigen. Trotz der Probleme mahnen sie zur Geduld:
"Eine erneute große Koalition war der richtige Schritt. Der Rechtsdrall bedingt die Regierungsbeteiligung der SPD. Die Grundideen wie Mietpreisbremse, Digitalisierung und Bürgerversicherung sind wirklich gut, doch es fehlt der Wille der Union, sich an den Themen zu beteiligen. Stattdessen drehen wir uns bei der Flüchtlingsfrage im Kreis. Eine Krise, die die Bürger nicht einmal ansatzweise betrifft. Die SPD muss sich ihrer Rolle in der Regierung mehr bewusst werden und auf den Tisch hauen, wenn sich die Union untereinander bekriegt. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass unsere Regierung auch diese Krise bewältigen wird." (Daniel Willemsen)
"Man kann nicht erwarten, dass einem die Regierung alle Wünsche erfüllt"
"Ich bin zufrieden mit der Arbeit der Regierung. Man kann nicht erwarten, dass einem die Regierung alle Wünsche erfüllt. Und die Regierungsmitglieder können auch nicht immer einer Meinung sein. Streit muss sein. Aber er muss zu einem annehmbaren Kompromiss führen." (Christa Subklew-Papp)
"Im Allgemeinen bin ich zufrieden. Viele der notwendigen Maßnahmen wurden im Koalitionsvertrag niedergeschrieben und werden - so wie ich das sehe - auch umgesetzt. Aber das braucht seine Zeit. Was ich aber immer schon als Fehlbesetzung gesehen habe, ist der Innenminister. Seehofer ist zu alt, um aktive und moderne Politik zu gestalten. Ebenso entwickelt er sich zum Laufburschen von Söder. Die Unfähigkeit der Union Kompromisse zu finden, ist unsäglich. Die Hauptverantwortung dafür sehe ich bei der CSU." (Hubert Runge)