Brexit-Verhandlungen:40 Seiten voll britischer Ideen

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Anhänger der Organisation "Border Communities Against Brexit" stehen vor der Ulster Hall in Belfast, Nordirland. (Foto: dpa)

Londons Brexit-Unterhändler ist heute in Brüssel, um Johnsons Angebot zu besprechen. Was der britische Premier vorschlägt, was daran ein Fortschritt ist - und was eine Bedrohung.

Von Björn Finke, Matthias Kolb und Alexander Mühlauer

In einem vierseitigen Brief an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erläutert der britische Premierminister Boris Johnson seine Vorschläge, um doch noch einen Deal vor dem 31. Oktober zu erreichen. Der von Downing Street erarbeitete Gesetzestext ist mehr als 40 Seiten lang. In 21 Artikeln soll die Grenzfrage zwischen Irland und Nordirland neu geregelt werden. Die Europäische Union ist nun dabei, die britischen Ideen im Detail zu prüfen - und wird dann entscheiden, ob es sich auf dieser Basis lohnt, Verhandlungen aufzunehmen. Etwa eine gute Woche ist dafür Zeit. EU-Ratspräsident Donald Tusk bringt die in Brüssel vorherrschende Skepsis nach Gesprächen mit Johnson und Irlands Premier Leo Varadkar auf den Punkt : "Wir bleiben offen, aber sind noch nicht überzeugt."

Am heutigen Freitag ist der britische Unterhändler David Frost in Brüssel, er muss dem Team von EU-Chefunterhändler Michel Barnier viele Fragen beantworten.

Der Gesetzestext ist bislang streng geheim: Weder in den Hauptstädten noch in der "Brexit Steering Group" des EU-Parlaments hat man das Dokument gesehen. Es geht dabei nicht nur um technische Fragen, sondern vor allem um die Wahrung des noch immer fragilen Friedens auf der irischen Insel.

Was ist der Kern des neuen Vorschlags?

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zum Austrittsabkommen, das Johnsons Vorgängerin Theresa May mit der EU verhandelt hatte: Nachdem dieser Vertrag vom britischen Parlament drei Mal abgelehnt wurde, will London nun komplett auf den "Backstop" verzichten. Diese Klausel würde bestimmen, dass das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibt, sofern Zollkontrollen auf der irischen Insel anders nicht zu verhindern sind. Eine Möglichkeit, diese Kontrollen abzuwenden, wäre ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen London und Brüssel. Doch die Brexit-Hardliner bei den Tories lehnen den Backstop strikt ab; sie fürchten, dass Großbritannien bei Scheitern eines solchen Abkommens für immer in einer Zollunion gefangen sein könnte.

Auch der ursprüngliche Vorschlag aus Brüssel, wonach nur Nordirland in Zollunion und Binnenmarkt bleiben soll, wurde in London verworfen. Schließlich würde es dann eine Grenze zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens geben. Johnson will mit seinem Vorschlag sicherstellen, dass in Nordirland allein das britische Zollregime gilt. Das würde aber bedeuten, dass es an der Grenze zur Republik Irland Zollkontrollen geben muss. Genau das sollte der Backstop verhindern.

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Die EU und auch Irland sind nicht zufrieden mit den neuen Ideen für die Lösung des Brexit-Streits. Der EU-Kommissionspräsident teilt mit: Das Vereinigte Königreich müsse nacharbeiten.

Wie will Johnson also dann die Grenzfrage lösen?

Nordirland soll für alle Agrar- und Industriegüter weiter die EU-Regeln anwenden. Damit wäre es aus Londoner Sicht nicht nötig, dass an der irischen Grenze Zöllner prüfen, ob Waren den Produkt- und Verbraucherschutzstandards der EU genügen. Dafür würden solche Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland eingeführt. In London ist man der Meinung, dies könne auf den Fähren stattfinden.

Damit entstünden zwei Grenzen: eine zwischen Großbritannien und Nordirland zur Prüfung von Standards - und eine auf der irischen Insel für Zölle. Um zu verhindern, dass für die Zollkontrollen Grenzposten aufgestellt werden, will Johnson sogenannte alternative Arrangements treffen. Kontrollen sollen fernab der Grenze stattfinden, etwa in den Unternehmen selbst; Firmen sollen Zollpapiere elektronisch einreichen, Warenströme sollen per Satellit verfolgt werden. Solch technische Lösungen hatte die EU allerdings schon in den Verhandlungen mit May als nicht praktikabel oder nicht ausgereift abgelehnt. Für kleine Unternehmen sollten Erleichterungen gelten, fordert Johnson.

Welche Probleme sieht die EU noch?

Einer der größten Knackpunkte ist Johnsons Idee, dass das nordirische Regionalparlament der Regelung regelmäßig zustimmen soll. Die Abgeordneten und die nordirische Regierung sollen darüber befinden, ob ihre Provinz sich weiter an die Vorgaben des EU-Binnenmarkts hält oder nicht. Falls nein, wären Kontrollen an der Grenze zur Republik Irland unvermeidlich - um zu verhindern, dass etwa Lebensmittel in die EU gelangen, die dort nicht zugelassen sind.

Das erste Mal soll dieses Parlament noch in einer Übergangsphase bis Ende 2020 abstimmen. In dieser Phase soll sich für Bürger und Firmen kaum etwas ändern. London und Brüssel wollen die Zeit nutzen, um ein Handelsabkommen abzuschließen. Nach diesem ersten Votum sollen die nordirischen Politiker alle vier Jahre abstimmen. Damit müssten die EU - und vor allem die Republik Irland - regelmäßig bangen, dass demnächst Grenzkontrollen nötig sind. Erschwerend kommt hinzu, dass Nordirland seit den Regionalwahlen 2017 keine Regierung hat; die größten Parteien sind zerstritten: Sinn Féin, die für eine Vereinigung mit Irland eintritt und den Brexit ablehnt, und die protestantische DUP, die einen Austritt aus der EU befürwortet.

Ist es zeitlich überhaupt möglich, all diese Streitpunkte zu klären?

In seinem Telefonat mit Johnson betonte Juncker, dass die EU auf den ungeliebten Backstop nur verzichten werde, wenn es "juristisch ausgearbeitete" Alternativen gebe. Die Staats- und Regierungschefs der EU treffen sich am 17. und 18. Oktober zum nächsten Gipfel: Es bleiben also weniger als zwei Wochen für Vorbereitung und Absprache mit allen Hauptstädten. Die Vorschläge in dieser Zeit auszuverhandeln und in juristisch wasserdichte Formulierungen zu gießen, dürfte sehr schwierig werden. Die Briten wollen auch die neuen Arrangements, die Zollposten an der inneririschen Grenze verhindern sollen, erst während der Übergangsphase ausarbeiten - parallel zu Gesprächen über einen Handelsvertrag, der die Wirtschaftsbeziehungen dauerhaft regelt. Anders als bei der Backstop-Klausel gäbe es also keine Garantie, Kontrollen wirklich zu verhindern. Das lehnen die EU-Verhandler bisher ab.

Gibt es auch Grund für Zuversicht? Juncker äußerte sich am Donnerstag nach einem Telefonat mit dem irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar skeptisch. Er sieht bei dem Vorschlag der Briten aber auch "positive Schritte". EU-Vertreter erkennen an, dass sich London bewegt hat, vor allem indem Nordirland weiter EU-Standards befolgen soll. Außerdem wird gelobt, dass London die Vorschläge ausdrücklich nicht als letztes Angebot präsentiert - das war nach dem Tory-Parteitag in Manchester nicht zu erwarten gewesen. In diesem Kontext ist auch das Statement des Europaparlaments zu sehen, ohne dessen Zustimmung ein geordneter Brexit unmöglich ist.

"Dieser britische Vorschlag ist keine Basis für ein Abkommen, dem das Parlament zustimmen könnte", heißt es in einer am Donnerstag veröffentlichten Stellungnahme. Martin Schirdewan, der die Linkenfraktion in der Brexit Steering Group vertritt, spricht von einem "hübsch verpackten, aber vergifteten Geschenk" und fordert von Johnson, auf die EU zuzugehen. Es bestehe die Gefahr von Steuerdumping und dem Untergraben von Sozial- und Umweltstandards. Die Bedenken der BSG ähneln jenen der EU-Kommission - und dass die Einwände detailliert erläutert werden, ist dem blame game geschuldet: Auch das EU-Parlament will sich nicht die Schuld für einen Chaos-Brexit zuschieben lassen.

Wie geht es jetzt weiter?

Noch am Donnerstag wollte Jean-Claude Juncker mit Irlands Premier Leo Varadkar beraten, zudem traf EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Botschafter der EU-27. Am Freitag trifft Barniers Team auf die britischen Verhandler, die viele Details erläutern müssen. Es gelte auszuloten, wie viel Spielraum diese hätten, sagt ein EU-Diplomat: "Vor allem in der Zollfrage muss London auf uns zugehen." Viele Unsicherheiten bleiben: So gibt es in Brüssel erhebliche Zweifel, dass Johnson eine Mehrheit im Unterhaus organisieren kann - ähnliche Zusicherungen habe es von Theresa May auch gegeben.

Selbst im Falle einer Einigung mit London halten viele in Brüssel eine Verlängerung über den 31. Oktober hinaus für nötig, um alles rechtlich einwandfrei zu formulieren. Ob und wie Johnson dies akzeptieren würde? Er lehnt es kategorisch ab, einen solchen Antrag selbst zu stellen. Dies gehört zu den vielen offenen Brexit-Fragen.

© SZ vom 04.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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