Brexit-Chaos:Falle oder Ausweg? Was "indicative votes" bedeuten

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Theresa May spricht im Unterhaus. Die Fraktionsdisziplin im Parlament ist in Sachen Brexit kaum mehr vorhanden. (Foto: dpa)

Das Unterhaus übernimmt die Kontrolle im Brexit-Chaos. Finden die Abgeordneten einen Ausweg? Und was sind die Gefahren? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Sebastian Gierke

Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Dabei ist es eine Untertreibung, die Situation im Brexit-Chaos außergewöhnlich zu nennen. Auch die Maßnahme, die das britische Parlament in der Nacht auf Dienstag mit 329 zu 302 Stimmen beschlossen hat, ist mehr als das, sie ist ein Tabubruch.

In der Woche, in der Großbritannien eigentlich die EU hätte verlassen sollen, übernimmt das Unterhaus die Kontrolle über den völlig verfahren Prozess und fügt der Regierung und vor allem Premierministerin Theresa May eine weitere, kaum zu verschmerzende Niederlage zu. Drei Staatssekretäre traten zurück, um für den Plan stimmen zu können.

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Ein entsprechender Antrag wurde am Montagabend im Unterhaus angenommen. Für Premierministerin May ist das der nächste Rückschlag.

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Worin besteht der Plan?

Am Mittwoch wird das Unterhaus Probeabstimmungen über eine Reihe von Vorgehensweisen durchführen, die im Moment möglich erscheinen. Diese indicative votes sollen klären, ob es eine Mehrheit für eine andere Option als den Deal der Premierministerin gibt, der bereits zwei Mal im Parlament abgeschmettert wurde. Die Hoffnung ist, dass sich so ein Ausweg aus der aktuellen Blockade auftut.

Worüber wird abgestimmt?

Das ist noch nicht ganz klar, es gibt bisher keine definitive Liste. Das sind einige der Möglichkeiten:

  • Soll es ein zweites Referendum geben?
  • Soll Großbritannien in der Zollunion mit der EU bleiben? Das kommt der Position der Oppositionspartei Labour am nächsten. Das würde aber weitere Verhandlungen mit der EU und wohl eine erneute Verschiebung des Austrittstermins erfordern.
  • Soll es "Norwegen Plus" geben? Das wäre eine Variante des sogenannten weichen Brexit. Großbritannien würde, nach dem Vorbild Norwegens, im Binnenmarkt bleiben und außerdem, daher das "Plus", in der Zollunion. Auch dafür bräuchten die Briten dann mehr Zeit.
  • Soll es einen No-Deal geben? Großbritannien würde ohne eine Vereinbarung am 12. April, dem neuen Stichtag, austreten. Das Unterhaus hat allerdings bereits zwei Mal gegen No-Deal gestimmt.
  • Soll der Brexit abgesagt werden? Es besteht die Möglichkeit, das Autrittsverfahren nach Artikel 50 zu beenden.
  • Soll es einen Brexit mit Theresa Mays Deal geben? Auch wenn der Plan bereits zwei Mal im Parlament abgelehnt wurde und Parlamentspräsident John Bercow ein drittes Votum darüber abgelehnt hat, könnte er unter dem Druck der aktuellen Lage noch einmal zur Abstimmung gestellt werden.

Für welchen Plan ist eine Mehrheit möglich?

Im Moment ist keine gesicherte Prognose möglich. Es erscheint allerdings nach der Erfahrung der vergangenen Wochen eher unwahrscheinlich, dass eine der oben genannten Varianten eine Mehrheit finden würde. Falls eine Mehrheit durch Nachbesserungen oder Veränderungen möglich scheint, könnte der jeweilige Plan durch weitere Abstimmungen kommende Woche konkretisiert werden.

Was bedeuten die Abstimmungen für die Regierung?

Sollte es eine Mehrheit für eine der Alternativen geben, bedeutet das nicht, dass die Regierung daran rechtlich gebunden ist. Es wäre aber ein deutliches Zeichen des Parlaments, welchen Weg es präferiert. Einige Abgeordnete sind außerdem der Meinung, dass das Parlament einen mehrheitsfähigen Plan auch gesetzgeberisch durchsetzen könnte. Verfassungsrechtlich scheint das äußerst unsicher.

Wie laufen die Abstimmungen ab?

Wie genau das Prozedere aussieht, ist noch nicht klar. Interessant wird sein, ob die Abstimmungen frei abgehalten werden, also die Abgeordneten unabhängig von der Parteilinie abstimmen zu lassen. Die Fraktionsdisziplin ist in Sachen Brexit aber sowieso kaum mehr vorhanden, vor allem auf Seiten der tief gespaltenen konservativen Regierungspartei.

Wahrscheinlich werden am Mittwoch die verschiedenen Vorschläge nacheinander zur Abstimmung gestellt. Möglicherweise werden die Abgeordneten aber auch nach ihrer Präferenz gefragt. Dann hätte man am Ende eine Liste, auf der ganz oben der Vorschlag steht, für den die größte Zustimmung im Parlament vorhanden ist, auch wenn selbst dieser in dem Moment keine Mehrheit findet.

Welche Gefahr bergen solche Abstimmungen?

Falls keine oder sogar mehrere Optionen eine Mehrheit im Parlament bekommen, blockiert sich das Parlament selbst. Als in Großbritannien im Jahr 2003 zum letzten Mal indicative votes abgehalten wurden - damals ging es um die sieben Varianten einer Reform im Oberhaus -, gab es keine Mehrheit für einen der Vorschläge. Die Blockade führte dazu, dass es zu keiner Reform kam.

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