Großbritannien:Kampf für ein zweites Referendum

Lesezeit: 3 Min.

Demonstranten protestieren vor dem Parlament in London gegen den Brexit. (Foto: dpa)
  • Mindestens eine Million Menschen werden am Samstag in London erwartet, um für ein zweites Brexit-Referendum zu demonstrieren.
  • Doch die Begeisterung für eine zweite Volksabstimmung hat abgenommen.
  • Auch Labour-Parteichef Jeremy Corbyn hat sich bisher geweigert, entsprechende Vorstöße im Parlament zu unterstützen.

Von Cathrin Kahlweit, London

Hilary Benn, einer der prominentesten Labour-Abgeordneten und langjähriger Minister unter Tony Blair, stellte am Mittwoch im Unterhaus eine kluge Frage, auf die er bis heute von Theresa May keine befriedigende Antwort bekommen hat: "Wenn es demokratisch ist, wie die Regierung behauptet, dem Parlament nicht nur einmal, nicht nur zweimal, sondern vermutlich sogar dreimal dieselbe Frage vorzulegen, damit wir unsere Meinung ändern, warum ist es dann undemokratisch, das britische Volk zu fragen, ob es seine Meinung geändert hat?"

Benn ist ein vehementer Befürworter eines zweiten Referendums, das erste war 2016 mit 52 Prozent Ja- gegen 46 Prozent Neinstimmen für den EU-Austritt ausgegangen. Drei Jahre, viele neue Erkenntnisse und einen ausgehandelten, aber zweimal niedergestimmten Vertrag später findet der linke Politiker, es sei an der Zeit, dem Volk das letzte Wort zuzugestehen.

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"People's Vote" (Votum des Volkes), heißt die Kampagne, für die Benn sich einsetzt, und der die Premierministerin den Krieg erklärt hat. Eine zweite Volksabstimmung, glaubt sie, werde die Spaltung im Volk nur vertiefen und die Populisten stärken. Gleichwohl werden an diesem Samstag in London mindestens eine Million Menschen erwartet. Sie wollen für ein zweites Referendum und, wenn es für die Remainer besonders gut läuft, für den Verbleib in der Europäischen Union auf die Straße gehen.

Etwa 200 Busse aus dem ganzen Land rollen an, Sonderzüge werden unterwegs sein. Die wortgewaltige Abgeordnete Anna Soubry, die aus der Konservativen Partei ausgetreten ist und sich der neuen, innerparlamentarischen "Independent Group" angeschlossen hat, schlug gleich mal vor, das Unterhaus solle am Samstag arbeiten. Es gebe genug aktuelle Probleme mit Mays Brexit, und zwischendurch könne man "kollektiv auf die Straße gehen und die Demonstranten begrüßen".

Dazu wird es wohl nicht kommen. Überhaupt hat die Begeisterung für eine zweite Volksabstimmung abgenommen - vielleicht ist die Erschöpfung zu groß, oder das alles überwölbende Thema, Mays Kampf um ihren Deal, erstickt den Optimismus. Die Veranstalter des Londoner Marsches versuchen jedenfalls mit viel Euphorie und Crowdfunding, dem Plan neues Leben einzuhauchen. Auch wenn der Grundton von People's Vote auf einer Pressekonferenz am Mittwoch noch eher defensiv klang: "Gebt uns nicht auf."

Die Erfolgschancen für einen zweiten Anlauf seien da, sagte etwa Alastair Campbell, ehemaliger Labour-Berater, denn "Mays Brexit ist vorbei, wenn sie kommende Woche ihre dritte Niederlage erleidet. Dann geht es erst richtig los." Die Idee eines weiteren Votums sei zudem, darauf legte Magaret Beckett von der Labour Party Wert, nicht etwa eine von mehreren Optionen - sondern quasi der Endpunkt. "Wenn die Abgeordneten alle Möglichkeiten diskutiert und sich geeinigt haben, dann muss ein Deal die finale Zustimmung der Bürger des Vereinigten Königreichs bekommen." Und wenn nicht? Dann erst recht.

Labour-Parteichef Jeremy Corbyn sieht die Zeit für ein zweites Referendum bisher nicht gekommen

Allerdings: Obwohl die Referendum-Idee auf dem Labour-Parteitag nach langer Debatte als letzte Option akzeptiert wurde, falls der Versuch, Neuwahlen zu erzwingen, scheitert, hat sich Parteichef Jeremy Corbyn bisher geweigert, entsprechende Vorstöße im Parlament zu unterstützen. Vergangene Woche, als die Independent Group um Anna Soubry den Vorschlag eines zweiten Referendums zur Abstimmung stellte, zwang die Parteiführung ihre Fraktion, sich zu enthalten. Vorausgegangen war auch die Weigerung der People's-Vote-Kampagne, den Vorstoß zu unterstützen. Das Timing sei falsch, hieß es, jetzt sei noch nicht die Zeit.

Margaret Beckett, eine standhafte Corbyn-Unterstützerin, beharrt gleichwohl darauf, dass ihre Partei letztlich Ernst machen und diesen Weg mitgehen werde. Behauptungen, Corbyn sei dagegen, seien falsch. Vorige Woche war bei Labour auch debattiert worden, einen Vorschlag zu unterstützen, nach dem man Mays Deal billigen könnte - unter der Bedingung, dass sie hinterher ein zweites Referendum durchführt und sich eine letztgültige Bestätigung holt. Aber auch dieser Plan ist bisher nur graue Theorie.

Weil die Rückendeckung fehlte, fiel der Vorschlag der Independent Group im Parlament kläglich durch. Auch ein weiterer prominenter Remainer und Referendums-Befürworter, Chuka Umunna, räumte ein: "Noch haben wir die nötigen Stimmen nicht zusammen." Leider sei die Politik der Labour-Partei nicht "das Papier wert, auf dem es steht". Umunna war Labour-Abgeordneter, bevor er mit Soubry die Independent Group gründete.

Beide werden am Samstag mitmarschieren, um dem Plan neues Gewicht zu verleihen. Hunderttausende aus dem ganzen Land werden dabei sein - und hoffen, dass Mays Deal nächste Woche im Parlament scheitert und das Parlament übernimmt, um einen weicheren Brexit zu erkämpfen - oder den Ausstieg ganz zu verhindern. Peter Kellner vom Meinungsforschungsinstitut YouGov bietet neue Zahlen an, um die Referendum-Fans zu bestärken: 56 Prozent der Befragten hätten sich dafür ausgesprochen, dass das Volk das letzte Wort bekommt, 44 dagegen. Was noch mehr Mut machen soll: 60 Prozent würden einen Verbleib in der EU dem Deal von May vorziehen.

© SZ vom 23.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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