Brexit:Kurzer Jubel, Nationalhymne - dann gehen alle zur U-Bahn

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Drei Brexit-Anhängerinnen demonstrieren auf dem Parliament Square in London. (Foto: Toby Melville/Reuters)

Die Hundertprozentigen begehen den EU-Austritt auf der Straße. Premier Johnson hält sich zurück. Richtig gefeiert wird nur auf den Partys millionenschwerer Brexiteers. Über eine Nacht der gemischten Gefühle.

Von Cathrin Kahlweit, London

Es sollte sich wie ein historischer Moment anfühlen, Schlag 23 Uhr, als das Sehnen so vieler Briten wahr wurde. Aber wer einen Ausbruch kollektiver Erleichterung erwartet hatte in der Nacht, in der das Königreich die EU verließ, der sah sich enttäuscht. Euphorie, tanzende Menschen, ein großes Feuerwerk? Mitnichten. Zwar hatte immerhin der Regen kurz vorher ein Einsehen gehabt und aufgehört, über der Hauptstadt niederzuprasseln, aber sonst: war wenig los im Regierungsviertel und auch anderswo. Leere Straßen, volle Pubs, wie jeden Freitagabend.

Auf dem Parliament Square gegenüber von Westminster, den die Brexit-Party mit ihrem Chef Nigel Farage für sich reserviert hatte, drängten sich ein paar tausend Menschen, viele hatten einen Union Jack dabei, manche trugen lustige Hüte in den Nationalfarben. Die Lautsprecheranlage funktionierte nicht richtig, fade Reden wurden nur dann interessant, wenn das Publikum zu Schlüsselbegriffen wie Labour, BBC oder Jean-Claude Juncker buhte. Die Stimmung war latent aggressiv, junge Männer mit sehr kurzen Haaren brüllten mehr, als dass sie patriotische Lieder sangen, und ab und zu wurde auch mal kurz ein Hitlergruß gezeigt. Kurz vor Schluss begann die Menge, die Sekunden zu zählen. Punkt elf kurzer Jubel, Nationalhymne, dann strebten alle zur U-Bahn. War da was?

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Die Brexit-Party der Brexit-Partei war ohnehin nicht repräsentativ für die Stimmung im Land; hier trafen sich die Hundertprozentigen. Es gab ein paar solcher großen Partys in Leave-Gegenden im Königreich, der Ablauf war fast überall gleich: Reden, Hüte, Lieder. "Endlich", und "Wir sind frei"-Rufe. Viele Feierlichkeiten waren von Politikern oder Aktivisten offiziell organisiert worden. Brexiteers wie Steve Baker hingegen, einer der aggressivsten Befürworter des Austritts im Parlament, hatte vorher schon angekündigt, er werde zuhause bleiben und einen gepflegten Schluck Champagner nehmen. Ob dieser aus Frankreich kommen werde, erläuterte er nicht. "Ich werde feiern, ich werde mir ein Lächeln erlauben, aber ich werde den Tag mit Respekt gegenüber jenen begehen, die heute traurig sind". Soviel Zurückhaltung hatte der Mann über Jahre nicht gezeigt.

Boris Johnson hielt es genauso. Die Regierung hatte ihre Feierlichkeiten eher klein gehalten, in Downing Street, wo eine an die Wand projizierte Uhr die Sekunden zählte, traf sich das Kabinett zum Umtrunk. Im entscheidenden Moment war die Straße vor der berühmten Tür weitgehend leer, viele frierende Polizisten sicherten eine Meile, auf der sich vorwiegend Pub-Besucher zur U-Bahn begegneten. Der Premierminister hatte seine Ansprache an die Nation bereits um 22 Uhr gehalten; sie war angemessen optimistisch, dies sei kein Ende, sondern ein Anfang, Erneuerung und Herausforderung, das Land habe seine Souveränität zurück. Nichts Überraschendes. Viele Satzteile kannte man aus alten Reden. Seine Haare waren, wie immer, kunstvoll verwuschelt.

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London ist eigentlich eine Stadt voller Remainer. Also war zu erwarten gewesen, dass zumindest diese sich äußern - wenn auch nicht feiern. Aber von der angekündigten Mahnwache vor dem Europahaus war nichts zu sehen, und die EU-Fans, die nicht öffentlich weinen wollten, blieben sowieso überwiegend mit einer Flasche Whisky daheim und betranken sich stilvoll. Eine Party von Rejoinern - so nennen sich von nun an jene, die wieder in die EU zurückwollen, hatte schon am Donnerstag stattgefunden. Das Motto: "Lasst uns feiern, als gäbe es kein Morgen."

"London ist offen - heute und immer"

Immerhin die Stadtverwaltung zeigte Haltung: Auf den Ankündigungstafeln in der U-Bahn, auf der die einfahrenden Züge angeschrieben sind, stand an manchen Stationen der Lauftext: "London ist offen - heute und immer."

In anderen Landesteilen war die Stimmung ebenso gespalten wie in der Hauptstadt. Vor dem schottischen Parlament hatten sich Befürworter des Unabhängigkeitsreferendums und EU-Fans versammelt, die schottische Ministerpräsidentin sprach von "einem Tag der echten und tiefen Trauer". Wer im Brexit-kritischen Schottland jubeln wollte, tat das lieber privat. An der nordirischen Grenze zur Republik, die mit dem aktuellen Deal verschont bleibt von Kontrollen, blieben Kundgebungen aus, eine BBC-Reporterin stand praktisch allein in einem Grenzort im Dunkeln.

Echte Feierstimmung soll vor allem auf den Partys der Reichen und Schönen in schicken Bars in Marylebone und Chelsea aufgekommen sein; Gastgeber waren, wie britische Medien berichteten, millionenschwere Brexiteers, die den Kampf für den Austritt über die Jahre finanziell unterstützt hatten. Aber da kam man als neugierige Nachtschwärmerin auf der Suche nach einem erhebenden Moment in dieser Nacht der gemischten Gefühle sowieso nicht hinein.

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