Beim Rechnen mit Vorzeichen ist es ganz einfach: Minus mal minus ergibt plus. Doch leider ergeben im Leben oder in der Politik zwei Fehler selten etwas Gutes. Es war ein Fehler historischen Ausmaßes, dass der damalige Premierminister David Cameron die Briten im Sommer 2016 über die Mitgliedschaft in der EU abstimmen ließ. Jetzt hoffen Brexit-Gegner im Königreich, den damaligen Fehler ausbügeln zu können - ausgerechnet mit einem neuen Referendum über den Austritt. Die größte Oppositionspartei, Labour, verkündet nun, den Ruf nach so einer Volksabstimmung zu unterstützen.
Aber die Bürger noch einmal anzuhalten, über ein derartig kompliziertes Thema zu entscheiden, wäre falsch: genauso falsch, wie es das erste Referendum war. Es würde ein zweites Mal enormer Schaden angerichtet. Dabei ist nicht einmal klar, dass die Mehrheit der Briten heute gegen den Austritt votieren würde.
Die Mitgliedschaft in der EU berührt die ganz großen Fragen. Es geht um Souveränität, es geht um Großbritanniens Stellung in der Welt, es geht um Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Diese ganz großen Fragen wurden am 23. Juni 2016 zu einer simplen Ja/Nein-Frage eingedampft. Doch was nach dem Goodbye kommt, wie Frieden und Wohlstand gewahrt werden: Darauf kann so ein Referendum keine Antwort geben. Die Brexit-Kampagne versprach den Bürgern, alles werde ganz einfach. In Wirklichkeit ist nichts einfach.
Die Volksabstimmung hat das Land gespalten und die Regierung gelähmt
Die Volksabstimmung hat das Land gespalten und Parlament und Regierung gelähmt. Sie ist ein Lehrbeispiel dafür, dass sich Schicksalsfragen von Nationen nicht für Referenden eignen. Volksabstimmungen sind nützlich, um Bürgern Mitsprache bei überschaubaren Entscheidungen zu gewähren. Etwa zum Verlauf von Umgehungsstraßen. Aber die Zukunft der Außen- und Wirtschaftspolitik lässt sich nicht in ein Ja/Nein-Schema pressen; für solche Themen gibt es Parlamente.
Ein zweites Referendum würde die Gräben nur vertiefen. Brexit-Anhänger würden eine Wiederholung als Verrat ansehen, als Beleg dafür, dass das Establishment auf ihre Ansichten pfeift. Es ist zudem unklar, welche Optionen auf den Wahlzettel kämen: ein Verbleib versus ein Abschied gemäß dem Austrittsvertrag, für den keine Mehrheit im Parlament existiert? Oder sollten die Briten zwischen dem Brexit-Kurs der Regierung und dem von Labour entscheiden? Und was ist mit der Variante Austritt ohne Abkommen?
Ebenso unklar ist, wofür die Parteien werben würden. Bei den Wahlen 2017 versprachen sowohl Labour als auch die regierenden Konservativen, das Land aus der EU zu führen. Egal, was die Parteispitzen nun festlegen würden: Teile von Labour und Konservativen würden die Linie nicht mittragen; den Parteien drohte endgültig die Spaltung. Bereits vergangene Woche gründeten elf Parlamentarier beider Parteien eine neue unabhängige Gruppe.
Wegen solcher Bedenken ist im Unterhaus keine Mehrheit für ein zweites Referendum absehbar - zum Glück. Umfragen zufolge würde eine Volksabstimmung ohnehin wieder zu einem ganz engen Rennen. Zwar dürften die meisten Briten inzwischen verstanden haben, dass die Brexit-Kampagne 2016 falsche Versprechen abgab. Allerdings haben die zähen Verhandlungen Londons mit Brüssel das Ansehen der EU nicht gerade gesteigert.
Großbritannien:Labour-Partei fordert zweites Brexit-Referendum
Die größte Oppositionspartei stellt sich hinter die Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum in Großbritannien.
Dass Parlamentarier den Brexit stoppen wollen, ist im Prinzip sympathisch. Der Austritt schafft nur Probleme und löst keine. Er schwächt Großbritannien und die EU. Aber ein zweites Referendum wäre für diese Notbremsung gar nicht nötig, zumindest juristisch betrachtet. Die erste Volksabstimmung war nicht bindend, es war ein Meinungsbild, das zudem von einer Lügenkampagne beeinflusst worden war. Unterhaus und Regierung dürfen den Austritt also aufhalten. Allerdings existiert dafür bisher keine Mehrheit, weil die meisten Abgeordneten nicht das Ergebnis der Befragung missachten wollen.
Ein zweites Referendum ist jedoch keine Lösung. Der am wenigsten schlechte Ausweg aus dem Dilemma läge darin, endlich den Austrittsvertrag anzunehmen und die EU geordnet zu verlassen - so wie es die Mehrheit bei dem fatalen Referendum 2016 gefordert hat.
Großbritannien versinkt durch den Brexit nicht im Meer
Danach würde eine Übergangsphase beginnen, in der sich wenig ändert. London und Brüssel wollen währenddessen einen Vertrag über die künftigen Beziehungen schließen. Die Nicht-Mitglieder Schweiz und Norwegen sind eng an die Union angebunden. In diese Länder zu reisen, dort zu arbeiten oder Geschäfte zu treiben, ist meist genauso einfach wie in der EU. Das muss als Vorbild dienen.
Großbritannien versinkt durch den Brexit nicht im Meer. Das Land bleibt Teil Europas, bleibt hoffentlich ein guter Partner - aber ein Partner, der bei Entscheidungen in Brüssel nicht mehr mit am Tisch sitzt. Das ist aus Londoner Sicht betrüblich. Schuld daran sind David Cameron und seine irrwitzige Idee, das Volk über eine Frage abstimmen zu lassen, über die nie hätte abgestimmt werden dürfen.