Nach Demonstrationen kursieren häufig zwei Zahlen: eine Schätzung der Polizei, wie viele Menschen auf der Straße waren, und eine zweite Schätzung, die von den Veranstaltern selbst stammt. Die Veranstalter schätzen naturgemäß großzügiger. Selten allerdings klaffte eine so große Lücke wie zwischen den Angaben der Berliner Polizei zur Zahl der Teilnehmer bei der "Querdenken"-Demonstration am Samstag - und denen der Stuttgarter Initiative "Querdenken 711", die dafür bundesweit mobilisiert hatte.
Die Polizei nannte gegen drei Uhr nachmittags einen Spitzenwert von rund 17 000 Menschen, für die Abschlusskundgebung später die Zahl von rund 20 000 Teilnehmern aus. In den sozialen Netzwerken kursierten zu diesem Zeitpunkt bereits Falschmeldungen, die Polizei habe die Zahl von 1,3 Millionen bestätigt, die von den Veranstaltern verbreitet wurde. In einer Fotomontage bestätigte sie angeblich gar 3,5 Millionen Teilnehmer. Eine "exorbitant höhere Zahl" als 17 000, "die laut verschiedener Tweets durch uns genannt worden sein soll", wiesen die Beamten auf Twitter zurück. Vorwürfe wurden laut, eine staatliche Desinformationskampagne versuche, die Demo kleiner zu machen als sie war.
Die Schätzungen der Polizei dienen dazu, Einsätze besser koordinieren zu können. Wenn die Beamten wissen, an welchen Stellen es möglicherweise eng wird, können sie, wenn nötig, den Fluss der Menschenmenge entsprechend steuern. Sie nehmen dazu die Quadratmeter der Straßenfläche, die der Demozug bedeckt, und multiplizieren sie mit der Zahl, wie viele Menschen geschätzt auf einen Quadratmeter kommen. Diese Berechnung ist nicht sehr kompliziert, Zahlen für die Fläche sind öffentlich zugänglich, ebenso Bildmaterial, auf dessen Grundlage Schätzungen möglich sind, wie dicht gedrängt die Menschen auf der Demo standen.
Die Abschlusskundgebung fand auf dem häufig als "Partymeile" bezeichneten Abschnitt der Straße des 17. Juni zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor statt. Die Silvester in Berlin GmbH hat für die Fläche einmal eine Größe von rund 80 000 Quadratmetern genannt, wobei nicht klar ist, ob auch die Plätze rund um das Brandenburger Tor und die Siegessäule mit einberechnet wurden. Über das Tool Map Checking erhält man lediglich rund 37 000 Quadratmeter reine Straßenfläche. Bezögen sich die 80 000 Quadratmetern aber tatsächlich nur auf die Straße selbst und wäre sie zudem komplett belegt, mit einer Person pro Quadratmeter, wäre folglich von 80 000 Teilnehmern auszugehen.
Aber sehr wahrscheinlich waren es deutlich weniger. Zum Beweis der angeblichen Kleinrechnung wurden Fotos herangezogenen, auf denen die Straße bei der Schlusskundgebung ähnlich voll aussieht wie bei der Loveparade 2001. Damals feierten - laut Veranstalter - mehr als eine Million Menschen. Das Foto der Corona-Demo zirkuliert allerdings in niedriger Auflösung, sodass eine verschwommene Masse die Straße bedeckt. In besserer Bildqualität allerdings, sobald man näher heranzoomt, ist auf dem Foto zu sehen, dass die Straße nur um die Bühne herum richtig voll ist. Zur Siegessäule und zum Brandenburger Tor hin wird es deutlich lichter. Der untere Bildrand des in der Gegenüberstellung verwendeten Fotos ist entfernt worden - dort wäre es auch in der niedrigen Auflösung zu erkennen gewesen, wie sich die Reihen ausdünnen.
Auf einem anderen, aus größerer Entfernung aufgenommenen Foto sieht man, dass die Straße weiter nach Westen in Richtung Siegessäule beinahe leer ist.
Bei der Loveparade 2001 hingegen besetzte die Menschenmenge nicht nur den gesamten Abschnitt von Brandenburger Tor bis Siegessäule, sondern auch den Großen Stern, von wo aus sie weiter die Straße des 17. Juni weiter in Richtung Westen entlang und in die anderen, strahlenförmig abzweigenden Straßen hineinfloss. Trotzdem war selbst die damalige Schätzung von mehr als einer Million Teilnehmer wohl zu hoch. Die Polizei sprach von etwa 800 000 Teilnehmern.