Von zwei Uhr nachmittags an sollte es kostenloses Benzin für alle geben, die aus Bergkarabach flüchten wollten. Die Menschen standen am Montag Schlange vor den Tankstellen der Regionshauptstadt Stepanakert. Schließlich mangelte es schon vor dem aserbaidschanischen Angriff allem, an Treibstoff, Lebensmitteln, Medikamenten, Strom. Jetzt flüchten die armenischen Bewohner von Bergkarabach vor den aserbaidschanischen Truppen, die die Region vergangene Woche eingenommen haben.
Am Montagabend explodierte nach Angaben des Büros des Menschenrechtsbeauftragten der international nicht anerkannten Republik ein Treibstoffdepot nahe Stepanakert. Demnach soll es mindestens 200 Verletzte und eine unbekannte Zahl von Toten gegeben haben, berichtet die Nachrichtenagentur dpa. Auf Bildern sind gewaltige Rauchwolken zu sehen.
Es gibt kaum zuverlässige Informationen über die Lage in Stepanakert, sowohl was die Explosion angeht als auch die allgemeine Lage. Unabhängige Berichterstatter fehlen, Bewohner schicken Fotos und Nachrichten über soziale Medien. Auf den Bildern sind Menschen zu sehen, die Benzinkanister tragen, ihre Kofferräume vollladen, ihre Mobiltelefone neben Stromgeneratoren auf der Straße aufladen. Auch in Stepanakert selbst gibt es Flüchtlinge, sie haben sich aus den umliegenden Dörfern in der Hauptstadt in Sicherheit gebracht. Oft sind sie auf der Suche nach verlorenen Angehörigen, leben in Notunterkünften.
Die Straßen waren so voll, dass Kranke und Verletzte nicht transportiert werden konnten
Gleichzeitig fliehen die Menschen zu Tausenden nach Armenien: Insgesamt seien dort bereits 4800 Flüchtlinge aus Bergkarabach angekommen, meldete die Regierung in Eriwan am Montagmittag. Zwischen Stepanakert und Gori - der ersten größeren Stadt hinter der Grenze - stauten sich die Autos. In Gori haben die Behörden Flüchtlingsunterkünfte eingerichtet.
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Die Eskalation in der Region Bergkarabach ist zwar vorerst beruhigt, die Lage bleibt aber fragil. In New York liefern sich die Länder einen Schlagabtausch. Bundesaußenministerin Baerbock verlangt eine Deeskalation.
Eigentlich sollten zuerst Menschen in Sicherheit gebracht werden, die während der Kämpfe ihre Häuser verloren hatten, schrieben die offiziellen Stellen in Bergkarabach. Doch die Straßen waren zwischenzeitlich so voll, dass Kranke und Verletzte beispielswiese gar nicht transportiert werden konnten. Laut dem Ombudsmann der nicht anerkannten Republik "Arzach", so nennen die Bewohner Bergkarabach, sollen 200 Menschen während des Angriffs getötet und mehr als 400 verletzt worden sein.
Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan sagte am Sonntag, ohne echten Schutz vor "ethnischer Säuberung" und ohne Verbesserung der Lebensbedingungen für die Armenier in Bergkarabach würden die Flüchtlingszahlen noch steigen. Die Verantwortung dafür liege bei Aserbaidschan und den russischen Friedenstruppen in Bergkarabach. Armenien sei bereit, alle Flüchtlinge von dort, "unsere Brüder und Schwestern", aufzunehmen. Das ist kein kleines Versprechen, denn viele Geflüchtete fühlen sich gerade von Paschinjan im Stich gelassen. Sie jetzt aufzunehmen birgt auch Risiken für den Premierminister.
Paschinjan will von Moskau unabhängiger werden
Der hatte noch eine weitere Botschaft, sie ging Richtung Moskau. Der aserbaidschanische Angriff habe gezeigt, so Paschinjan, dass Armeniens externes Sicherheitssystem "nicht effektiv" sei. Er meinte damit ein von Moskau angeführtes Sicherheitsbündnis, dem Armenien angehört - und das ihm nun nicht mehr ausreicht. Paschinjan möchte von Moskau unabhängiger werden und betrachtet als Schritt dorthin das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Der allerdings hat Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen.
Trotzdem betonte der armenische Premier, seine Entscheidung sei nicht gegen Russland gerichtet. "Wird Armenien ein souveräner, freier, demokratischer Staat sein oder eine ängstliche Randregion?", fragte er in einer Ansprache an die armenische Bevölkerung. Armeniens Sonderbotschafter Edmon Marukjan schrieb auf der Plattform X, die russische Friedensmission habe nicht für die friedliche Existenz Bergkarabachs gesorgt. Aber auch die EU, die USA und alle anderen internationalen Akteure hätten darin versagt, die Rechte und die Sicherheit der Armenier in Bergkarabach zu bewahren.
Putins Sprecher Dmitrij Peskow sagte am Montag, Russland werde den Dialog mit Armenien fortsetzen. Putin habe kürzlich erst mit Paschinjan telefoniert. "Wir verstehen die emotionale Intensität dieses Moments", so Peskow, "lehnen jedoch den Versuch kategorisch ab, die Verantwortung auf die russische Seite oder gar auf die russischen Friedenstruppen zu übertragen." Die russischen Truppen hätten ihre Aufgabe heldenhaft erfüllt.
Derweil traf sich die Gegenseite, um über die zurückeroberte Region zu beraten: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der im Konflikt an der Seite Aserbaidschans steht, sprach am Montag mit Präsident Ilham Alijew. Als Treffpunkt wählten sie ausgerechnet die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan, die durch Armenien von Aserbaidschan getrennt ist. Alijew möchte einen Landkorridor dorthin errichten, das wäre auch in Erdoğans Interesse. Er hätte dann über Aserbaidschan einen Zugang zum kaspischen Meer.