Religion:Belgiens großer Streit ums Kopftuch

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Musliminnen in Brüssel dürfen nun auch als Angestellte in Behörden ein Kopftuch tragen, solange sie keine Führungsposition ausüben. (Foto: imago)

Der verheerende Terror, der aus Molenbeek kam, ist nun juristisch aufgearbeitet. Aber weiterhin geht es dort um die Grundsatzfrage: Wie hält es der Islam mit der westlichen Demokratie?

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Die muslimische Sportlehrerin Loubna Lafquiri hat nie ein Kopftuch getragen. Sie lehnte es als Ausdruck männlicher Fremdbestimmung ab. Ihren Beruf ergriff sie mit dem Wunsch, die muslimischen Mädchen sollten durch den Sport den Weg zu einem selbstbestimmten Leben finden.

Es ist ein grausamer Gedanke, aber wer in diesem Jahr den Prozess zu den Brüsseler Terroranschlägen vom 22. März 2016 verfolgt hat, wird ihn nicht mehr los: Loubna Lafquiri wäre vielleicht noch am Leben, wenn sie ein Kopftuch getragen hätte. Der islamistische Selbstmordattentäter stellte sich in der U-Bahn direkt neben Loubna Lafquiri. Offenbar entsprach die junge Frau seinem Feindbild der westlichen Gesellschaft.

Die große Mehrheit der Muslime fühlt sich diskriminiert

32 Menschen starben bei den Anschlägen in Brüssel, getötet von der derselben Terrorzelle, die vier Monate zuvor in Paris 130 Menschen umgebracht hatte. Verantwortlich sind Männer wie Salah Abdeslam und Mohamed Abrini, aufgewachsen im selben Stadtteil von Brüssel wie Loubna Lafquiri, in Molenbeek. Sie sind nun wegen terroristischen Mordes verurteilt. Eines der finstersten Kapitel des europäischen Terrorismus ist damit juristisch abgeschlossen. Aber welche Lehren daraus zu ziehen sind, bleibt umstritten.

An Loubna Lafquiris Vermächtnis erinnert in Molenbeek ein Gedenkstein.

"Die Musliminnen und Muslime gehören zum Staat Belgien", ließ der Ehemann von Loubna Lafquiri auf den Gedenkstein in Molenbeek schreiben. (Foto: Francisco Seco/AP)

Neben dem Bild der jungen Frau mit schwarzer Mähne stehen einige Zeilen in Französisch und Flämisch, die zur Versöhnung zwischen den Religionen aufrufen. Darunter findet sich ein Zitat aus der belgischen Nationalhymne: O Belgien, o geliebte Mutter! Loubna Lafquiris Ehemann, ebenfalls ein Muslim, hat diese Botschaft in den Stein meißeln lassen: Die Musliminnen und Muslime gehören zum Staat Belgien. Die Mehrzahl der Menschen in Molenbeek sieht das jedoch entschieden anders.

Molenbeek, durch die Anschläge zu traurigem Weltruhm gekommen, ist ein buntes, lebenswertes Viertel, in Teilen gentrifiziert. Zwei Drittel der 100 000 Einwohner sind muslimischen Glaubens, die meisten leben rund um das historische Zentrum, das den Charme einer arabischen Kleinstadt versprüht. Aber hier sind auch die gesellschaftlichen Konflikte angesiedelt.

Laut Umfragen fühlt sich die große Mehrheit der Muslime diskriminiert, nicht angenommen als Belgierinnen und Belgier, aufgehoben in der muslimischen Gemeinschaft. Mit dieser Religion hätten die islamistischen Anschläge rein gar nichts zu tun, glauben sie in der Mehrzahl, im Gegenteil, Molenbeek brauche noch mehr religiöse Prägung. Dabei mangelt es in Molenbeek an einem gewiss nicht: an Moscheen und einer streng muslimischen Lebensführung.

Eine muslimische Frauenrechtlerin kämpft gegen das Kopftuch

Seit einigen Monaten sitzt erstmals eine Muslimin mit Kopftuch an einer leitenden politischen Stelle im Rathaus von Molenbeek. Ihre Berufung war in ganz Belgien begleitet von großem politischen Streit. Mittlerweile drehen sich die Debatten um die Frage: Dürfen in den städtischen Behörden von Molenbeek und anderen islamisch geprägten Vierteln von Brüssel Frauen mit Kopftuch arbeiten?

Nein, sagen die einen, der Staat würde seine Neutralität in weltanschaulichen Fragen aufgeben und die Unterdrückung von Frauen billigen. Doch, sagen die anderen, durch das Verbot werde die muslimische Minderheit diskriminiert, außerdem sei es in vielen Fällen nur so möglich, muslimischen Frauen Jobs zu verschaffen. Der Kompromiss, der sich nun abzeichnet: Das Kopftuch wird erlaubt, wenn die Trägerin in der Behörde keine Führungsposition ausübt und keine Besucher empfängt.

Man kann das durchaus für eine pragmatische Lösung halten. Man kann das aber auch sehen wie die Frauenrechtlerin und Autorin Djemila Benhabib:

Djemila Benhabib, 51, kämpft für einen Islam im Einklang mit liberalen westlichen Werten. (Foto: privat)

Der Kopftuch-Vorstoß sei ein Versuch von linken Parteien, vor den Wahlen im Juni 2024 Stimmen der muslimischen Gemeinschaft abzugreifen - und grundsätzlich ein Zeichen der schleichenden Kapitulation der liberalen Demokratien in Europa vor dem Herrschaftsanspruch des politischen Islam.

Djemila Benhabib, 51 Jahre alt, hat zum Gespräch ins "Haus des Laizismus" in der Brüsseler Innenstadt geladen. Hier ist eine der Organisationen beheimatet, mit denen Benhabib für einen Islam kämpft, der im Einklang mit den liberalen westlichen Werten lebt. Hier finden Frauen, die aus der streng islamischen Gesellschaft ausbrechen wollen, Hilfe.

Belgien überließ die Betreuung der eigenen Muslime Saudi-Arabien

Man sitzt einer unerschrockenen Frau gegenüber, die gestählt ist von politischen Schlachten und immer wieder von Islamisten bedroht wird. Djemila Benhabib floh Mitte der Neunzigerjahre vor dem dschihadistischen Terror aus Algerien. Sie wanderte aus nach Québec, wo sie gegen das Prinzip des "accommodement raisonnable" zu Felde zog: gegen das "vernünftige Entgegenkommen" des Staates gegenüber der islamischen Minderheit. Islamistische Organisationen und identitäre Linke warfen ihr "Islamophobie" vor.

"Islamophobie", das ist der Kampfbegriff, den sie auch seit ihrem Umzug nach Belgien im Jahr 2019 zu hören bekommt. So war das beispielsweise, als Benhabib gegen die Ernennung einer kopftuchtragenden Elitewissenschaftlerin als staatliche Kommissarin für Fragen der Gleichberechtigung kämpfte. Diese Frau galt damals als Musterbeispiel einer selbstbestimmten Muslimin - und trat zurück, weil Vorwürfe auftauchten, sie pflege Verbindungen zur Muslimbruderschaft. "Islamophobie mon œil", so heißt Benhabibs jüngstes Buch: Islamophobie - das glaubst du doch selbst nicht!

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Sie sei nach Brüssel gekommen, sagt Djemila Benhabib, weil hier, in Europas Hauptstadt, die entscheidende Schlacht zwischen dem Islamismus und den Demokratien westlicher Prägung stattfinde. Man mag ihre Warnung für übertrieben halten - aber sie bildet in jedem Fall ein Gegengewicht zur verbreiteten belgischen Neigung, Probleme der Integration zu übergehen.

Der belgische Staat holte in den Sechzigerjahren nordafrikanische, vorwiegend marokkanische Arbeitskräfte ins Land. Als erster europäischer Staat erhob Belgien 1974 den Islam in den Rang einer offiziell geförderten Religion. Mit der Betreuung der islamischen Gemeinschaft betraute der belgische Staat Saudi-Arabien, im Gegenzug lieferte das Königreich billiges Erdöl nach Belgien. Es war ein verhängnisvoller Deal.

Mitte der Neunzigerjahre siedelte sich der erste Hassprediger an

Saudi-Arabien finanzierte nicht nur prächtige Moscheen, sondern entsandte auch Imame, die einen rigorosen, wahhabitisch-salafistischen Islam predigten. Die Salafisten bildeten eine Allianz mit den politisch agitierenden Muslimbrüdern. Der Frèro-Salafismus fand zunehmend Widerhall unter Muslimen, die unter dem industriellen Niedergang, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung litten. Und die lokalen Politiker suchten den Ausgleich mit den Islamisten, statt sie zurückzudrängen.

All diese Phänomene konzentrierten sich in Molenbeek, einst das industrielle Zentrum des Landes. Mitte der Neunzigerjahre siedelte sich dort der erste dschihadistische Hassprediger an. Sein Wort fiel auf fruchtbaren Boden. Molenbeek war jahrzehntelang ein Zentrum des islamistischen Terrors. Und die muslimische Gemeinde, vom Rest des Landes misstrauisch beäugt, schottete sich noch mehr ab.

Der Islamismus breite sich, bestens finanziert aus dem Ausland, in ganz Belgien auf leisen Sohlen weiter aus, sagt Djemila Benhabib. Sie berichtet von laizistischen muslimischen Lehrerinnen und Lehrern, die von Fundamentalisten gemobbt werden. Der belgische Staat habe keinerlei Kontrolle über den Islam-Unterricht an seinen Schulen. Als entlarvend empfindet sie den zum Teil gewalttätigen Widerstand gegen ein Dekret, demzufolge die Kinder an den Schulen in der Region Wallonie pro Jahr zwei Stunden Sexualkundeunterricht erhalten sollen. Der Protest wird in der Öffentlichkeit getragen von Frauen mit Kopftuch.

Ob sie nicht auch übertreibe in ihrem Kampf gegen das Kopftuch? Sie habe nichts persönlich gegen diese Frauen, sagt Djemila Benhabib. Aber sie sei nun einmal geprägt durch ihre Geschichte. Algeriens Unglück habe begonnen, als junge Frauen wie sie bedroht wurden, wenn sie kein Kopftuch trugen. Manchmal setze sie sich ganz bewusst in ein Teehaus in Molenbeek, auch wenn das Mut erfordere. Sie wolle sich nicht verdrängen lassen. Nur wenn die Frauen ihre Freiheit gewinnen, sagt Djemila Benhabib, könne der Islam in Europa heimisch werden.

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SZ PlusBrüssel
:Unsere Heimat, das "Terrornest"

Im Brüsseler Stadtteil Molenbeek würden sie gerne mal über was anderes reden als über die islamistischen Attentäter, die jetzt vor Gericht stehen. Zum Beispiel, warum viele hier nichts mit Belgien zu tun haben wollen.

Von Josef Kelnberger (Text) und Jan A. Staiger (Fotos)

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