Der Kampf der Sans-Papiers in Belgien:Hungern für einen Ausweis

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Ein Mann namens Mohammed, der seit sieben Wochen im Hungerstreik ist, liegt in einem Bett in der Brüsseler Kirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage. (Foto: YVES HERMAN/REUTERS)

475 illegal in Belgien lebende Menschen befinden sich in Brüssel seit zwei Monaten im Hungerstreik. Einige könnten sterben, warnen Ärzte. Das bringt nun auch die Regierung in Nöte.

Von Nina von Hardenberg, Karin Janker und Oliver Meiler

Um auf ihre ausweglose Situation aufmerksam zu machen, sind 475 Migranten in Brüssel seit zwei Monaten im Hungerstreik. Einige haben nun auch noch aufgehört zu trinken. Sie könnten sterben, warnte die Organisation Médecins du Monde und brachte damit Belgiens Sieben-Parteien-Regierung ins Wanken. Die sozialistischen Minister und Staatssekretäre würden sofort zurücktreten, wenn ein Demonstrant sterben würde, warnte der stellvertretende Ministerpräsident, Pierre-Yves Dermagne, in der Zeitung Le Soir. Ministerpräsident Alexander De Croo reagierte irritiert. Eine Regierungskrise sei derzeit das Letzte, was das Land brauche, sagte er mit Blick auf die Not, die die Flut auch in Belgien vielerorts ausgelöst hat.

Die Menschen, die seit Wochen in einer Barockkirche im Zentrum von Brüssel und in zwei Universitäten ausharren, kommen aus Ländern wie Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten. Einige sind auch aus Südamerika. Die meisten von ihnen leben und arbeiten seit Jahren in Belgien. Anerkennung und soziale Absicherung aber haben sie nicht. In der Corona-Krise, in der viele ihre Jobs verloren haben, mussten sie das besonders stark spüren.

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Er sei Marokkaner, erzählt etwa der 37-jährige Wail Nor, der sich als einer der Sprecher der Streikenden ausgibt, der SZ am Telefon. Sein Leben aber spiele sich seit 17 Jahren in Belgien ab. Mit 21 kam er mit einem Studentenvisum nach Brüssel und blieb. Ohne offizielle Papiere aber werde er ausgebeutet. In der Restaurantküche verdiene er fünf Euro die Stunde. Das sei der Tarif für Illegale. Der legale Kollege, der genau die gleiche Arbeit mache, erhalte 18 Euro. "So geht das allen Streikenden", sagt Nor.

Die Migranten hoffen auf ein Einlenken der Regierung. Schließlich hat Belgien schon mehrmals nach Protestaktionen kollektive Legalisierungsaktionen durchgeführt. 2009 erhielten so Tausende einen Aufenthaltstitel, noch viel mehr aber gingen leer aus. So auch Weil Nor, der, wie er erzählt, nie eine Antwort auf sein Gesuch erhielt.

Die Rückführungsrichtlinie gibt den EU-Staaten Spielraum

EU-Staaten sind grundsätzlich verpflichtet, illegale Migranten in ihre Heimat abzuschieben. Die Rückführungsrichtline gibt den Staaten allerdings Spielraum für Ausnahmen. Diesen nutzten die Staaten jedoch sehr unterschiedlich, sagt Kevin Fredy Hinterberger, der an der Universität Wien seine Doktorarbeit zum Umgang verschiedener EU-Staaten mit illegalen Migranten geschrieben hat. So hat etwa Spanien in den 1990er-Jahren immer wieder in großen Aktionen jeweils Tausende Migranten legalisiert, zuletzt 2005 noch Mal etwa 578.000. Erst kürzlich hat Spaniens Oberster Gerichtshof entschieden, dass illegale Migranten, die nachweislich seit zwei Jahren in Spanien leben und sechs Monate hier gearbeitet haben, ihre Papiere erhalten sollen. Erwartet wird nun, dass etwa 470 000 Menschen einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel erhalten, die meisten von ihnen stammen aus Lateinamerika.

"In Deutschland sind solche Regularisierungen zum Teil bereits im Recht integriert", sagt Hinterberger. So können etwa Geduldete, die acht Jahre nicht abgeschoben werden konnten, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten.

In Italien arbeiten viele Illegale zu Hungerlöhnen auf den Feldern im Süden. Ab und an regularisiert auch Rom Hunderttausende, unter Auflagen, um die Notsituation ein bisschen zu lindern. Die letzte derartige Aktion liegt ein Jahr zurück. Als nach den Grenzschließungen wegen Corona keine Saisonarbeiter nach Italien kommen konnten, erinnerte sich die Regierung der Illegalen im Land. Die Initiative aber floppte: Nur einige Tausend tauchten auf in der Legalität, vor allem weil ihre Arbeitgeber ihnen keine fixe Anstellung versprachen; die Immigranten hätten aber einen solchen Vertrag gebraucht.

In Belgien hat die Regierungskoalition im Koalitionsvertrag neue Legalisierungsaktionen ausgeschlossen. Daran will sich Belgiens Staatssekretär für Migration Sammy Mahdi auch halten. Wenn er Politik für die 475 Streikenden mache, würden sich angesichts von bis zu 150 000 illegalen Migranten in Belgien morgen alle Kirchen in Brüssel, Wallonien und Flandern mit Migranten ohne Papiere füllen, argumentiert er .

Eine Lösung für die Hungerstreikenden wird er dennoch bald finden müssen, nun da der Koalitionspartner Druck macht. Das aktuelle Sieben-Parteien-Bündnis hat endlose 493 Tage gebraucht, um sich zu formieren. An einem Bruch dürfte derzeit niemandem gelegen sein.

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