Proteste in Belarus:"Wir gehen so lange auf die Straße, bis wir gehört werden"

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Sie demonstrieren friedlich und mit Blumen in der Hand. Viele setzen sich zum ersten Mal für ein politisches Anliegen ein. Was treibt die Frauen in Belarus an, woher nehmen sie ihren Mut?

Von Silke Bigalke, Moskau, und Jan Awsejuschkin, Minsk

Die Proteste in Belarus sind vieles: überwiegend friedlich, kreativ und ausdauernd. Und sie sind weiblich. Zumindest waren es die Frauen, die drei Tage nach der Wahl am 9. August den Ton änderten, nach drei Nächten voller Gewalt durch Polizei und Sicherheitskräfte. Machthaber Alexander Lukaschenko hatte versucht, die Proteste gegen ihn niederzuschlagen. Beinahe 7000 Demonstranten, aber auch Unbeteiligte wurden festgenommen. Später sollte sich herausstellen, dass viele in Haft misshandelt wurden.

Am Mittwoch nach der Wahl dann gingen die Frauen auf die Straße. Sie trugen weiße Kleidung und Blumen und stellten sich zu Menschenketten auf. Am vergangenen Wochenende begann diese Kette am Komarowskij-Markt und wurde später zum Protestzug bis zum Unabhängigkeitsplatz vier Kilometer entfernt. Die Frauen demonstrieren gegen Gewalt, für freie Wahlen, und um die Männer zu unterstützen, die nun in den Fabriken streiken.

"Belarus ist sehr patriarchal. 'Feminismus' ist quasi ein verbotenes Wort, viele Leute verstehen es als etwas Negatives", hat die Oppositionelle Maria Kolesnikowa einige Tage nach der Wahl im Interview mit der SZ gesagt. "Das kehrt sich gerade komplett um und die Rolle der Frau sieht ganz anders aus. Das haben wir sehr schnell geschafft." Was gibt den belarussischen Frauen ihren Mut, was treibt sie an?

Nur Blumen zu halten und zu lächeln, reicht Olga nicht. Präsident Lukaschenko soll spüren, wie stark das Volk ist, findet sie. (Foto: Jan Awsejuschkin)

Olga Samstyko, 45, arbeitet in einem privaten Unternehmen für medizinische Geräte, und sagt, dass sie schon mit dem Ausgang der Wahl 1994 nicht zufrieden war. Damals gewann Alexander Lukaschenko zum ersten Mal. "Aber es waren die letzten fairen Wahlen in diesem Land, deshalb habe ich sie mit Respekt angenommen - in der Hoffnung, dass dieses Missverständnis bei der nächsten Wahl korrigiert wird. Aber fünf Jahre später wurde mit der Verfassung die Grundlage für gelegt, was wir jetzt haben. Ich bin hier, weil ich mit meinem Volk solidarisch bin. Wir wollen faire Wahlen und eine neue Zukunft für unser Land."

Lukaschenko traut sie zu, dass er sich mit allem, was er hat, an die Macht klammern wird. "Deshalb darf die Proteststimmung nicht vergehen. Es ist sehr wichtig, die Arbeiter zu unterstützen, die am Beginn des Streikprozesses stehen. Nur so können wir etwas ändern. Wir können jeden Tag mit Blumen kommen und lächeln - doch er muss auch sehen, welche Kraft des Volkes dahinter steckt."

Wie lange kann Lukaschenko sich noch im Amt halten? "Ich möchte nichts voraussagen. Ohnehin wird es bestimmt nicht mehr so werden wir früher. Das Bewusstsein der Menschen hat sich stark verändert. Noch vor zwei, drei Jahren hatte ich selbst eine große Apathie und glaubte nicht daran, dass das belarussische Volk aufsteht."

Warum stehen die Frauen dabei im Vordergrund? "Swetlana Alexijewitsch hat ein wundervolles Buch geschrieben, es heißt 'Krieg hat kein Frauengesicht'. Als Männern in den ersten drei Tagen nach den Wahlen solch barbarische Dinge wiederfahren sind, standen Frauen auf, um ihre Männer und Kinder zu verteidigen. Es war schon immer so, dass Frauen in jeder extremen Situation an vorderster Front standen. Und das werden sie auch weiterhin tun. Frauen hatten in unserem Land immer auch eine aktive bürgerliche Position, vielleicht sogar aktiver als Männer."

"Wir werden so lange auf die Straße gehen, bis wir gehört werden", sagt Alexandra (l.), die mit ihrer Mutter und Tante gekommen ist. (Foto: Jan Awsejuschkin)

Alexandra, 30, IT-Testerin, hat zwei Kinder und ist gerade in Elternzeit: "Es wäre dumm jetzt faire Wahlen und politische Veränderungen zu fordern. In erster Linie treten wir gegen die Gewalt und Grausamkeit ein, die der Staat gegenüber seinen Bürgern an den Tag legt. Ich habe meine Mutter und meine Tante mitgenommen. Abends gehe ich auch mit meinem Mann und meinen kleinen Kindern zu den Protesten. Wir werden so lange auf die Straße gehen, bis wir gehört werden."

Früher hat Alexandra sich nicht für Politik interessiert und auch nicht gewählt. "Aber dieses Jahr hatte ich das Gefühl, dass es höchste Zeit ist, etwas zu ändern. Als die Kandidaten sich zu Wort meldeten, spürte ich ihre Stärke. Was sie sagten, ließ mich nachdenken. Mein Mann ging solange zu den Streikposten von Tichanowskij, dem Mann der Kandidatin Swetlana Tichanowskajas, bis dieser festgenommen wurde. Wir fingen an alles aktiv zu beobachten, und die Situation hat uns schockiert."

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Die Frauen, sagt sie, möchten auch die streikenden Arbeiter unterstützen. "Es ist eine große moralische Unterstützung, dass wir Frauen protestieren. Durch unsere weiße Kleidung und die Blumen zeigen wir, dass wir keine Gewalt wollen. Das Fernsehen belügt die Menschen. Ich hoffe, dass diejenigen, die mit uns sprechen, erkennen, dass wir wirklich friedliche Menschen sind und keine Revolution wie in der Ukraine wollen."

Über Swetlana Tichanowskaja kann Alexandra nur Gutes sagen. Sie habe "wegen ihres Mannes, wegen der Liebe" kandidiert. "Sie wusste, dass sie aus dem Wahlkampf wahrscheinlich deswegen nicht entfernt wird, weil sie eine Frau ist, und dass sie eine Chance hat. Sie wurde zum Symbol der Bewegung und ich finde sie großartig. Ich denke, die Rolle einer Frau wird sich nach all dem verändern. Ich glaube, dass Frauen anfangen, ernsthafte Positionen in der Politik einzunehmen - und nicht nur dort."

"Eigentliche bleiben nur wir Frauen. Wir kämpfen für uns, für die Männer und für das Land": Darja (r.) und Aljona (Foto: Jan Awsejuschkin)

Darja, 23, ist Tourismusmanagerin und nimmt an Protesten teil, seit Wiktor Babariko verhaftete wurde. Babariko galt als aussichtsreichster Gegenkandidat zu Alexander Lukaschenko, er wurde aber nicht zur Wahl zugelassen und sitzt weiterhin in Haft. "Ich gehe raus, weil ich bei allem, was in meinem Land passiert, nicht zu Hause sitzen und die Nachrichten lesen kann", sagt Daria. "Ich muss körperlich dabei sein. Damit ich das Gefühl habe, dass ich versuche etwas zu ändern."

Sie habe schon vor dem Wahlkampf gewusst, dass im Land vieles schief läuft. "Aber ich habe mich nicht aktiv beteiligt. Und diese Kampagne gab mir Hoffnung." Warum sind nun gerade Frauen so aktiv?: "Weil die Männer hinter Gittern gelandet sind. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als rauszugehen. Swetlana Tichanowskaja hat damit angefangen, weil ihr Mann hinter Gitter saß. Sie wollte ihn um jeden Preis rausholen."

Aljona, 23, arbeitet im Vertrieb eines internationalen Unternehmens . Sie hat mehrere Erklärungen dafür, dass die Frauen eine große Rolle bei den Protesten spielen. "Erstens sind viele junge Männer zur Arbeit nach Polen oder Russland gegangen. Zweitens sind die meisten der offiziell 5000 Festgenommenen männlich. Und die bei den Kundgebungen Getöteten - das waren nur Männer. Eigentliche bleiben nur wir Frauen. Wir kämpfen für uns, für die Männer und für das Land."

So sei es auch bei Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja gewesen. "Sie hat Dutzende Male erklärt, dass sie nur eine Ehefrau ist und sich für Politik nicht interessiert. Die Situation im Land und die Verhaftung ihres Mannes zwangen sie dazu, diese Rolle zu übernehmen. Sie träumte ihr ganzes Leben lang davon, sich um die Familie zu kümmern, Frikadellen zu braten und auf Kinder aufzupassen, wie sie in Interviews wiederholt." Kehren die Frauen also nach dem Protest zurück an den Herd? "Ich glaube nicht, dass sich etwas ändert, wir werden so aktiv bleiben."

Natalja hat erst begonnen sich für Politik zu interessieren, als sie die Chance auf Veränderung im Land gesehen hat. (Foto: Jan Awsejuschkin)

Natalja, 27, arbeitet im Verkauf. Sie war bei der allerersten "Frauen"-Aktion und spricht übers Durchhalten: "Die Euphorie ist vorbei. Jetzt ist es am wichtigsten, nicht aufzugeben. Man muss verstehen, dass dies kein Sprint, sondern ein Marathon ist. Deshalb müssen die streikenden Arbeiter unterstützt werden."

Warum übernehmen das die Frauen? "Weil die Menschen jetzt Angst haben. Aber Frauen gehen in Weiß und mit Blumen zu friedlichen Kundgebungen, und die Leute betrachten dies als eine Möglichkeit, ihren Protest irgendwie auszudrücken. Abends haben viele Angst, auf die Straße zu gehen. Dass unsere Frauen aktiver werden, zeigte Swetlana Tichanowskajas Partei, und die Frauen unterstützten das. Ich bin sicher, dass dies auch so weitergeht."

Sie erzählt, dass sie sich erst für Politik interessiert hat, seit sie die Chance auf Veränderung gesehen hat, als Kandidaten wie Sergej Tichanowskij, Swetlana Tichanowskajas Ehemann, und Wiktor Babariko auftauchten. Beide durften zur Wahl nicht antreten, beide sitzen nun im Gefängnis. "Es passierten schreckliche Dinge, noch vor den Wahlen, als sie anfingen, Menschen auf der Straße zu ergreifen."

Ihr ist das selbst passiert, als sie mit ihrer Schwester zu einer Wahlaktion ging. "Man versuchte sie ohne Grund festzunehmen. Ich begriff, dass das jeden betreffen kann - dich, deine Familie und da kann man nicht abseits bleiben. Als wirklich fürchterliche Dinge passierten, waren das schon keine Spiele von Politikern mehr, links oder rechts. Es ist bereits so: Entweder ist man gegen den Faschismus - heute hat niemand Angst vor diesem Wort insbesondere in unserem Land. Entweder man hat Angst oder man versucht etwas zu ändern."

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