Kampf gegen Lukaschenko:"Wir können versuchen, diese Diktatur zu ruinieren"

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Die Oppositionelle Maria Kolesnikowa erzählt, was die jetzigen Proteste von früher unterscheidet - und warum sie keine Angst vor dem Gefängnis hat.

Interview von Silke Bigalke

Drei Frauen haben Belarus verändert. Maria Kolesnikowa ist die letzte des Trios, die noch im Land ist. Dort gehen täglich Tausende Menschen auf die Straße, sie protestieren gegen Machthaber Alexander Lukaschenko. Die Präsidentschaftswahl, glauben sie, hat eigentlich eine Frau gewonnen: Swetlana Tichanowskaja, die unter Druck nach Litauen geflohen ist. An ihrer Seite standen im Wahlkampf Weronika Zepkalo, die auch ausgereist ist. Und eben Maria Kolesnikowa. Sie will bleiben.

Mit einem fröhlichen "Hallo, guten Tag, ich bin Maria" setzt sich die 38-Jährige am Freitag zum Skype-Interview vor den Rechner. Bevor im März die Corona-Pandemie ausbrach, pendelte die Musikerin und Kulturmanagerin zwischen Minsk und Stuttgart. Sie erzählt, wie sehr sich ihr Leben seither verändert hat, was sie von der belarussischen Regierung erwartet und warum sie trotz allem keine Angst hat.

SZ: Sie sind die letzte verbliebene Oppositionsführerin im Land. Wie geht es Ihnen, wie sehen Ihre Tage aus?

Maria Kolesnikowa: Meine Tage sind sehr voll. Manchmal denke ich, ich habe ein ganzes Jahr in eine Woche gesteckt. Mir geht es gut, ich bin optimistisch und in dieser schwierigen Zeit in Belarus. Wir sind alle so voller Tatendrang, die ganze Gesellschaft, das gibt uns Kraft. Wir sind stark genug und wir gehen weiter.

Inzwischen wurden Festgenommene freigelassen, das Innenministerium hat sich entschuldigt. Sind das Anzeichen einer Wende, macht es Ihnen Mut?

Natürlich ist immer gut, wenn Leute freigelassen werden. Aber niemand kennt die genauen Zahlen und es gibt immer noch Familien, die nicht wissen, wo ihre Angehörigen sind. Die Entschuldigung des Ministeriums verstehen wir nicht als Entschuldigung. Das ist wieder eine Lüge, eine Manipulation durch die Regierung, damit es vor dem Wochenende ein bisschen ruhiger auf den Straßen wird. Damit die Leute vielleicht auf die Datscha fahren. Die gehen aber nicht, alle bleiben in der Stadt. Auch heute sind die Straßen in Minsk und anderen Städten seit dem Morgen voll. Die Leute stehen mit Blumen aus Solidarität in Menschenketten. Viele Fabriken streiken jetzt. Das ist schon etwas Besonderes.

Die unterlegene Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja ist nach Litauen geflohen. (Foto: Sergei Grits/AP)

Warum ist dieses Mal vieles anders? Auch früher schon wurden Kandidaten in Belarus festgenommen, Wahlen gefälscht, Proteste niedergeschlagen.

Die Proteste sind nicht mehr nur in Minsk. Die Leute waren schon vor der Wahl persönlich aktiv, haben Unterschriften gesammelt. So politisch aktiv waren sie früher nicht. Früher gab es Proteste, ein, zwei Tage, und dann war alles wieder ruhig. Dieses Jahr sind sie gewaltig. So viele Leute waren noch nie auf der Straße. So viele Leute waren noch nie im Gefängnis. So viele Leute waren noch nie bei Streiks. Die Hauptbotschaft der Menschen auf der Straße ist: "Bitte geh weg." Sie akzeptieren Lukaschenko nicht mehr als legitimen Präsidenten. Aber er hört nicht.

Trotzdem will er 80 Prozent der Belarussen für sich gewonnen haben. Wie konnte er die Stimmung im Land so falsch einschätzen?

Die Regierung versteht nicht, dass die Gesellschaft kein Puppentheater ist. Die Menschen haben eine eigene Meinung und wollen ihre Rechte schützen. Das hat die Regierung in 26 Jahren vergessen. Natürlich ruiniert das alle demokratischen Mechanismen. Wir haben keine fairen Gerichte, keine freien Medien, keine Polizei, die sich um das Volk kümmert. Alles, die ganze große Maschine, arbeitet nur im Interesse einer Person. Natürlich ist das nicht mehr akzeptabel am Anfang des 21. Jahrhunderts in der Mitte von Europa.

Wie groß ist Ihre Angst vor weiterer Gewalt durch die Polizei? Es heißt, es sei bereits scharf geschossen worden.

Wir haben keine Illusion darüber, wie brutal sie sein können. Die Gesellschaft braucht jetzt einen Dialog mit der Regierung und wir hoffen, dass es klappt. Dass wir wirklich miteinander sprechen und diese Situation lösen können. Ich möchte auf keinen Fall weitere Gewalt, mir persönlich tut das sehr weh. Ich habe den Platz besucht, wo ein Mann während des Protests gestorben ist. Ich war am größten Gefängnis in Minsk, wo Hunderte Leute seit Tagen und Nächten auf ihre Familienangehörigen und Freunde warten. Es sind wirklich tragische Tage. Mich persönlich berührt es sehr, viele Freunde von mir sind im Gefängnis. Für mich ist das eine Katastrophe. Aber ich habe keine Angst und bin deswegen so ruhig, weil ich weiß, dass wir es zusammen mit der belarussischen Gesellschaft stoppen können. Wir können versuchen, diese Diktatur zu ruinieren.

Sergej Tichanowskij, der Mann von Swetlana Tichanowskaja, sitzt seit Mai im Gefängnis. Sie selbst hat plötzlich und unangekündigt das Land verlassen. Könnte es da einen Zusammenhang geben?

Es stimmt, dass sie unter Druck gegangen ist. Aber wir haben keine Informationen, ob es wegen ihres Mannes war oder ihrer Kollegen, von denen viele bis jetzt im Gefängnis sitzen. Oder wegen ihrer Kinder. Wir wissen es nicht genau.

Haben Sie mit Swetlana Tichanowskaja gesprochen, seit sie ausgereist ist?

Maria Kolesnikowa, 38 Jahre, leitete das Wahlbüro des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko. Sie studierte in Stuttgart Musik und organisierte internationale Kulturprojekte in Deutschland und Belarus. (Foto: Misha Friedman/Getty Images)

Wir haben zur Zeit keinen persönlichen Kontakt. Aber wir arbeiten mit ihrem Team und überlegen die nächsten Schritte. Natürlich mache ich mir Sorgen um Swetlana. Ich bin voller Respekt und Dankbarkeit für alles, was sie in den letzten drei Monaten getan hat. Sie ist eine Heldin für uns.

Wenn es tatsächlich Neuwahlen gäbe, müsste sie zurückkommen nach Minsk.

Ich glaube schon. Die Prozedur ist sehr kompliziert. Deswegen arbeiten wir viel, um so schnell wie möglich Neuwahlen zu organisieren. Die Beschwerde gegen das Wahlergebnis ist eingereicht. Aber eine Antwort darauf haben wir noch nicht. Wir versuchen jetzt, einen runden Tisch mit verschiedenen repräsentativen Gruppen zu organisieren, Wirtschaft, IT, Kultur und alle anderen. Wir überlegen, wie wir die Übergangsphase schnell und sicher gestalten können. In der Regierung arbeiten Menschen seit vielen Jahren und mit großer Erfahrung. Viele von denen könnten bleiben und effektiv sein. Das ist für uns ein wichtiger und ein sensibler Punkt. Wir müssen irgendwann diesen Dialog beginnen und es ist überhaupt nicht leicht.

Sehr beeindruckend ist der Protest der Frauen, die jetzt auf die Straße gehen, nachdem Sie drei als Trio vorausgegangen sind.

Das ist ein riesiger Fortschritt. Belarus ist sehr patriarchal. "Feminismus" ist quasi ein verbotenes Wort, viele Leute verstehen es als etwas Negatives. Das kehrt sich gerade komplett um und die Rolle der Frau sieht ganz anders aus. Das haben wir sehr schnell geschafft. Und Lukaschenko hat es provoziert. Er hat mehrfach gesagt, dass eine Frau weniger Rechte habe als ein Mann. Eine Frau dürfe keine Präsidentin sein. Das hat viele beleidigt. Unser Trio hat geholfen zu verstehen, wie wichtig die Rolle der modernen Frau in unserer Zeit ist.

Sie sind die Letzte aus dem Trio, die noch im Land ist. Nimmt der Druck auf Sie zu?

Ich spüre eine persönliche Verantwortung, das ist der größte Druck für mich. Jeder kann wie ich etwas tun, um diese neue Freiheit und Gesellschaft aufzubauen.

Möchten Sie irgendwann nach Deutschland zurück?

Ich habe zwei persönliche Ziele: Erstens müssen alle Festgenommenen, auch die politischen Gefangenen, freigelassen werden. Zweitens muss es neue Wahlen geben. Ich überlege mir jetzt überhaupt nicht, nach Deutschland zu gehen. Aber natürlich ist Deutschland das Land, wo ich die letzten zwölf Jahre gelebt habe, ich habe dort viele Freunde, Bekannte, eine große Kunstgemeinschaft in Stuttgart, und ich vermisse sie. Es macht mich als Künstlerin ein bisschen traurig, dass ich gerade nicht weitermachen kann. Aber ich weiß: Es ist jetzt wichtig und notwendig, dass ich in Belarus bin.

© SZ vom 17.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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