Es ist Kritik, die sich Olaf Scholz immer wieder anhören muss. Deutschland verspiele das Vertrauen seiner Verbündeten, für die zögerliche Haltung des Bundeskanzlers bei Waffenlieferungen an die Ukraine gebe es im Osten Europas keinerlei Verständnis mehr. Vergangene Woche im Bundestag wies der Sozialdemokrat diese Vorwürfe ungewohnt emotional zurück. Deutschland, versicherte er, handele "im Geleitzug mit unseren Verbündeten".
Nun will er es beweisen. Am Dienstagvormittag ist Scholz zu einem Kurzbesuch in der litauischen Hauptstadt Vilnius gelandet, wo er von Präsident Gitanas Nausėda, der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas sowie dem lettischen Regierungschef Krišjānis Kariņš erwartet wird. Es ist die überhaupt erst zweite Reise von Scholz in ein östliches EU-Land seit seinem Amtsantritt und aus Sicht des Kanzlers nach der Verabschiedung des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr eine günstige Gelegenheit, seinen Geleitzug in Bewegung zu zeigen.
Es ist dann auch nicht so, als erntete Scholz kein Lob für den Beschluss im Bundestag. "Vielen Dank an Deutschland für die historische Entscheidung, die Militärausgaben zu erhöhen", sagt die Estin Kallas nach dem gemeinsamen Mittagessen. Der Wunsch ist groß, auch auf baltischer Seite, die Gemeinsamkeiten zu betonen. Ziemlich schnell aber wird klar: Die Unterschiede kann das nicht übertünchen. "Es kann kein Beschwichtigen, kein Nachgeben geben gegenüber diesem terroristischen Staat", sagt der Litauer Nausėda über Russland. Notwendig sei die "völlige Isolation". Was als Rüffel für die Telefonate des Kanzlers, zuletzt zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, mit Kremlchef Wladimir Putin verstanden werden darf.
Es gelte, die Ukraine mit allen möglichen Mitteln zu unterstützen, bis sie "diesen Krieg gewinnt", fordert Nausėda. Es ist eine Formulierung, die auch die Estin Kallas und der Lette Kariņš wiederholen. "Unser Ziel ist eindeutig: Russland muss verlieren, und die Ukraine muss gewinnen, damit Stabilität und Frieden in Europa wiederhergestellt werden", sagt er. Was das betrifft, aber bleibt Scholz unbeirrt. Alles müsse getan werden, wiederholt er auch in Vilnius seine Formel, "damit Russland diesen Krieg nicht gewinnen kann". Von einem örtlichen Journalisten auf seine als zögerlich wahrgenommene Linie und die als schleppend empfundenen Waffenlieferungen angesprochen, reagiert der Kanzler leicht gereizt auf die angeblich "nicht ganz richtigen Behauptungen". Kaum jemand tue mehr als Deutschland.
Scholz kündigt ein verstärktes Engagement der Bundeswehr im Baltikum an
Noch mehr als wegen der Waffenlieferungen scheint das baltische Trio aber in Sorge zu sein, weil von Scholz bisher noch kein Wort der Unterstützung zu hören gewesen ist für einen Status der Ukraine als EU-Kandidat. "Wir haben kein moralisches Recht, diesen Zeitpunkt zu verpassen", appelliert Nausėda. Worüber sich der Kanzler allerdings weiterhin ausschweigt. Klarer wird er in einem anderen Punkt. Scholz kündigt als Antwort auf den russischen Angriffskrieg ein verstärktes Engagement der Bundeswehr im Baltikum an. Aus diesem Grund auch ist die Wahl für die eintägige Kurzvisite auf Litauen gefallen. Mit etwa 1000 Soldatinnen und Soldaten zeigt die Bundeswehr als Teil der Nato-Mission "Enhanced Forward Presence" in dem Land bereits Präsenz.
Anfang 2017 hatte die Nato als Reaktion auf die Annexion der Krim 2014 und den Krieg im Osten der Ukraine die Mission in Polen und den drei baltischen Staaten mit rotierenden Kräften gestartet, um zu zeigen, dass sie es mit der Beistandsgarantie ernst meint. Die Bundeswehr übernahm die Führung der Mission in Litauen. Beim Nato-Gipfel in Madrid im Juni soll nun eine erhebliche Ausweitung beschlossen werden.
Stets geht es so während des Besuchs von Scholz also um die beiden miteinander verbundenen Anliegen der drei baltischen Nato-Staaten: sowohl die Unterstützung für die Ukraine zu verstärken als auch die durch den russischen Überfall auf sein westliches Nachbarland noch einmal gewachsenen Befürchtungen im Baltikum ernst zu nehmen. Genau das hatte Scholz bereits im Februar - zwei Wochen vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine - zugesagt. "Wir nehmen die Sorgen unserer Verbündeten sehr ernst. Wir stehen an eurer Seite", hatte Scholz den angereisten Staats- und Regierungschefs aus den baltischen Staaten im Kanzleramt versprochen.
Zusammen mit Nausėda stattet Scholz nach der Pressekonferenz der Bundeswehr im Camp Adrian Rohn einen Besuch ab, zu dem er konkrete Ankündigungen mitbringt. In einer gemeinsamen Erklärung mit dem litauischen Präsidenten Nausėda bekennt er sich zur Führung einer "robusten und kampfbereiten Brigade" mit der Aufgabe, Litauen gegen eine mögliche russische Aggression zu verteidigen. Die Brigade soll etwa 3000 Soldaten stark sein, 1500 davon aus Deutschland. In Litauen soll dauerhaft ein Führungsstab der Bundeswehr stationiert werden. Außerdem sollen Kräfte in Deutschland der Brigade zugeordnet werden und im Bedarfsfall schnell nach Litauen verlegt werden können. Litauen wiederum will die militärische Infrastruktur ausbauen. Einigkeit bekunden Scholz und Nausėda darüber, dass die Nato sich "langfristig" auf die veränderte Sicherheitslage einstellen und die Ostflanke stärken müsse.
Für den Besuch aus Deutschland haben die Soldaten auf einem staubigen Acker passend dazu ihr schweres Gerät aufgefahren. Interessiert lässt sich Scholz eine Panzerhaubitze 2000 zeigen, von denen sieben Stück nun auch an die Ukraine geliefert werden sollen. "Schönen Dank", verabschiedet er sich, bevor er zum nächsten Panzer schreitet, "schönen Dank für Ihren Einsatz." Hier sorgten Bundeswehr-Soldaten dafür, sagt er etwas später, "dass die Sicherheit in Europa und der Nato gewährleistet wird". Es sei wichtig, auch im Außenbereich der Nato präsent zu sein. Was konkret heißt: nahe der Grenzen Russlands. "Wir werden jeden Zentimeter des Nato-Territoriums gemeinsam mit den Verbündeten verteidigen, wenn sie angegriffen werden", betont der Kanzler zum Schluss. Da will er keine Missverständnisse aufkommen lassen.