Krieg in der Ukraine:Was der Fall Awdijiwkas bedeutet

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Awdijiwka ist an Russland gefallen, für die Ukraine ist das eine schwere Niederlage. (Foto: Dmitry Yagodkin/Imago/Itar-Tass)

Die ukrainischen Truppen mussten sich aus der strategisch wichtigen Stadt zurückziehen. Eine schwere Niederlage, die vor allem auf die russische Luftüberlegenheit zurückzuführen ist.

Von Florian Hassel, Belgrad

Nach der bittersten Niederlage seit einem Dreivierteljahr versuchen ukrainische Offizielle dem Fall der Stadt Awdijiwka an Russland positive Seiten abzugewinnen. Oleksandr Tarnawskyj, bis zum Rückzug ukrainischer Truppen am Samstag der kommandierende General vor Ort, behauptete am Sonntag, Moskau habe bei der Eroberung der nordwestlich von Donezk gelegenen Stadt in der Ostukraine knapp 47 200 Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren. Zu den Verlusten der Ukrainer fehlen Angaben; auch sie dürften mindestens in die Tausende gehen.

Die Eroberung von Awdijiwka ist für Moskau der größte militärische Erfolg seit der Einnahme von Bachmut im Mai 2023 - und Folge dramatischer Überlegenheit an Soldaten, Artilleriegranaten und erstmals auch in der Luft. Sowohl ukrainische Militärs als auch Experten des Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington analysierten: Hunderte Gleitbomben mit einem Gewicht von bis zu jeweils drei Tonnen, abgefeuert von Flugzeugen aus einer Entfernung von bis zu 70 Kilometern, hätten ukrainische Verteidigungsstellungen in ehemaligen Fabriken ebenso zerstört wie zivile Häuser.

Putin feiert den"wichtigen Sieg"

Nach einem offenbar teils chaotischen ukrainischen Rückzug unter russischem Feuer zogen russische Truppen am Samstag im Zentrum der ehemals von 32 000 Menschen bewohnten, vollständig zerstörten Stadt die russische Fahne auf dem zerstörten Verwaltungsgebäude und über dem Kulturpalast auf. Russlands Präsident Wladimir Putin feierte die Einnahme der Stadt als "wichtigen Sieg".

Nachdem Russland im Oktober 2023 eine Offensive auf Awdijiwka begonnen hatte, berichteten ukrainische Soldaten zuletzt über dramatische Unterlegenheit bei Soldaten, Munition, Drohnen und Flugabwehrsystemen. Panzer der 59. Brigade etwa, die bei der letzten erfolgreichen ukrainischen Offensive im Herbst 2022 noch 120 Granaten täglich zugeteilt bekamen, verfügten schon Ende 2023 nur noch über höchstens 20; Artilleristen der Brigade berichteten im Februar, statt 40 Granaten könnten sie nur noch eine abfeuern, so der Kyiv Independent.

Entscheidend für die Eroberung Awdijiwkas war indes dem ISW zufolge, dass es Russland erstmals in den zwei Kriegsjahren gelang, mit Kampfjets und Hubschraubern Überlegenheit in der Luft herzustellen und vor dem Vorrücken seiner Truppen auch gut befestigte ukrainische Stellungen mit Gleitbomben zu zerstören. In der vergangenen Woche rückten russische Truppen von Norden und Süden auch westlich von Awdijiwka vor und drohten, die verbliebenen ukrainischen Einheiten einzuschließen. General Oleksandr Syrskyj, der militärische Oberkommandierende, befahl deshalb in der Nacht zum Samstag den vollständigen Abzug.

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Anders als im Mai 2023 Bachmut hat Awdijiwka hohen strategischen Wert: wegen seiner Straßen ebenso wie als Eisenbahnknotenpunkt. Ukrainischen Schätzungen zufolge setzte Moskau für die Eroberung der Stadt rund 40 000 Soldaten ein. Moskau könnte sich nun zum Vorrücken auf die 40 Kilometer westlich von Awdijiwka liegende Stadt Pokrowsk oder auch nach Nordwesten auf die zentrale Garnisonsstadt Kramatorsk entschließen. Weiter nördlich ist etwa die Stadt Kupjansk mögliches Ziel einer russischen Offensive.

Selbst wenn die Eroberung von Awdijiwka Russland Zehntausende Soldaten gekostet haben sollte, dürfte dies seine Armee nicht wesentlich beeinträchtigen. Jack Watling vom Londoner Militärforschungsinstitut Rusi analysierte am 13. Februar, Moskaus Einheiten erlitten zwar bedeutende Verluste, "wachsen aber zahlenmäßig gleichwohl". Seit Beginn 2023 habe Russland die Größe seiner Streitkraft in der Ukraine von 360 000 auf 470 000 Truppen gesteigert. Moskau habe zudem seine Rüstungsproduktion hochgefahren und setze auf einen Sieg bis 2026. Die Ukraine zählt dem Londoner Thinktank IISS zufolge 800 000 aktive Militärs, hat aber erhebliche Probleme bei neuen Einberufungen und Nachschub für die Armee.

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