Kaukasus:Es wird leer in Bergkarabach

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Auf der Flucht aus Bergkarabach Richtung Armenien haben sich lange Fahrzeugschlangen gebildet. (Foto: Vasily Krestyaninov/dpa)

Mehr als 100 000 Menschen sind nach Armenien geflüchtet und müssen jetzt versorgt werden. Das Land setzt auf internationale Hilfe, aber nicht mehr auf Russland.

Von Frank Nienhuysen

Zum ersten Mal seit 30 Jahren haben die Vereinten Nationen Zugang zur Region Bergkarabach erhalten. Eine Gruppe von UN-Mitarbeitern ist seit Sonntag in dem Gebiet, um den wenigen dort noch verbliebenen Armenierinnen und Armeniern mit Lebensmitteln und Medikamenten zu helfen. Mehr als 100 000 Menschen sind über den Latschin-Korridor aus Bergkarabach bereits nach Armenien geflüchtet und müssen dort versorgt werden. Die Gesamtbevölkerung von Bergkarabach wird auf 120 000 geschätzt.

Die armenische Regierung hat die Europäische Union um Hilfe gebeten, vor allem für Notunterkünfte und bei der medizinischen Versorgung. Der Weg aus Bergkarabach heraus über die einzige Verbindungsstraße Richtung Goris in Armenien ist für die Flüchtlinge sehr anstrengend, weil sie viele Stunden unterwegs sind, kaum versorgt worden sind und schon zuvor unter einer monatelangen aserbaidschanischen Blockade gelitten haben. Die armenische Regierung ist mit der großen Zahl an Flüchtlingen überfordert, obwohl viele von ihnen versuchen, zunächst bei Verwandten unterzukommen, etwa in der Hauptstadt Eriwan. Der Wohnungsmarkt ist ohnehin schon angespannt, seitdem Zehntausende Menschen aus Russland nach Armenien eingereist sind, auf der Flucht vor Repressionen, dem Krieg gegen die Ukraine und einer Mobilmachung in Russland.

Sorge vor Diskriminierungen

Das Gebiet Bergkarabach, das sich vor drei Jahrzehnten für unabhängig erklärt hatte, gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, dort lebten jedoch überwiegend Armenier. Unterstützt wurde das Gebiet von Armenien. Nach einem eintägigen schweren Angriff hat Aserbaidschan vor anderthalb Wochen die Kontrolle über Bergkarabach übernommen. Am vergangenen Donnerstag gab die Führung der Republik Bergkarabach auf; bis Ende dieses Jahres wird sie sich auflösen. Die autoritäre Führung Aserbaidschans kündigte an, dass die Bevölkerung von Bergkarabach nach Aserbaidschan und dessen Gesetzen "reintegriert" werde. Das aber will kaum jemand in Bergkarabach. Innerhalb weniger Tage hat fast die gesamte Bevölkerung das Gebiet Richtung Armenien verlassen.

Unter Druck: Die Opposition wirft Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan vor, er habe die Kapitulation der Bergkarabach-Führung zu leicht hingenommen. (Foto: Tigran Mehrabyan/PAN/dpa)

Die armenische Führung in Eriwan hat noch Ende vergangener Woche den internationalen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen angerufen, um sicherzustellen, dass die armenischen Karabach-Bewohner geschützt und nicht zum Ziel von Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen werden. Aserbaidschan weist diese Sorgen als unbegründet zurück. Die Einwohner hätten die freie Wahl, zu bleiben oder sicher die Region zu verlassen. Allerdings hat Aserbaidschan mehrere ehemalige politische Anführer von Bergkarabach festgenommen.

Die Europäische Union sagte fünf Millionen Euro für humanitäre Hilfe zu; sie betonte, dass Aserbaidschan die Verantwortung trage für die Sicherheit der verbliebenden Armenier in Bergkarabach, bezog ansonsten jedoch noch nicht klar Stellung. Deutlich ist, dass sich die armenische Führung von Russland, ihrer ehemaligen Schutzmacht, derzeit offenbar keinerlei Unterstützung mehr erwartet.

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Armeniens Premier Nikol Paschinjan hat Moskau in den vergangenen Wochen immer wieder vorgeworfen, Armenien im Stich zu lassen. Russische Friedenssoldaten, die seit drei Jahren in Bergkarabach stationiert sind, hätten etwa nichts gegen die Blockade des Latschin-Korridors unternommen, die bereits im vergangenen Dezember begonnen hatte. Auch militärisch habe Russland Armenien nicht gegen aserbaidschanische Angriffe geholfen, obwohl beide Länder Mitglieder eines Verteidigungsbündnisses sind.

Wird es einen Friedensvertrag geben? Denn der Konflikt ist nicht einfach vorbei

Paschinjan steht nun innenpolitisch unter Druck. Die armenische Opposition wirft ihm vor, dass er sich nicht genug gegen die aserbaidschanische Offensive gestemmt und die Kapitulation der Bergkarabach-Führung allzu bereitwillig akzeptiert habe. Außerdem macht sie den Premier dafür verantwortlich, dass sich das Verhältnis zu Russland verschlechtert habe. Nun ist die Frage, ob Paschinjan einen Friedensvertrag mit Aserbaidschan aushandeln wird. Denn der Konflikt der beiden Staaten ist mit der geplanten Auflösung der Karabach-Behörden nicht beendet.

Aserbaidschan strebt einen Korridor an, der das Land künftig mit der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan verbindet. Der Weg führt über armenisches Gebiet; der Streit dreht sich nun darum, ob Armenien die Hoheit über eine solche Verbindung behalten und den Warenverkehr kontrollieren würde. Eine direkte Verbindung zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave über den Süden Armeniens würde für Aserbaidschan auch den Weg zur befreundeten Türkei ebnen. In Armenien gibt es nun Befürchtungen, dass das energiereiche und militärisch hochgerüstete Aserbaidschan den Korridor notfalls mit Gewalt durchsetzen könnte.

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