Anschläge in Europa:Wer schützt die Juden?

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Mit Kippa in Europa - derzeit wieder gefährlich? (Foto: Getty Images; Collage SZ.de)
  • Nach den Anschlägen von Paris und Kopenhagen fühlen sich viele Juden in Europa bedroht.
  • Frankreich und Deutschland versprechen Schutz, in ganz Europa bewachen Polizisten und Sicherheitsleute Synagogen und andere jüdische Einrichtungen.
  • Bleiben oder gehen? Israels Ministerpräsident Netanjahu wirbt um Einwanderer, sie sind für den Staat lebenswichtig. Sein Aufruf befeuert aber auch einen alten Streit.

Von Silke Bigalke, Kopenhagen, Matthias Drobinski und Ronen Steinke, Kopenhagen/München

Warum hat uns keiner geschützt? Mette Miriam Bentow fragt das, deren Tochter in der Kopenhagener Synagoge ihre Bat Mitzwa feierte, ehe der Attentäter kam und schoss und tötete. Nun hat die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt diesen Schutz für alle jüdischen Einrichtungen im Land versprochen, doch Frau Bentow glaubt ihr nicht mehr. "Ich fühle nicht, dass Dänemark die Bedrohung seiner jüdischen Gemeinschaft ernst nimmt", sagt sie dem britischen Sender BBC. Die Sicherheit ist dahin.

Auch Schweden und Norwegen haben den Schutz für jüdische Einrichtungen erhöht. Vor allem die jüdischen Gemeinden in Schweden fühlen sich bedroht. Es gab enge Beziehungen zur Gemeinde in Kopenhagen, sagt, Jehoshua Kaufman, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Malmö. "Das beeinflusst unser tägliches Leben als Juden und unsere Sicht auf uns selbst. Wir machen uns Sorgen über unsere Zukunft."

Wer schützt Europas Juden vor der neuen antisemitischen Gewalt? Der französische Staat! So hat Präsident François Hollande den französischen Juden versprochen im Angesicht des geschändeten jüdischen Friedhofs in Sarre-Union. Der deutsche Staat, so hat es Bundeskanzlerin Angela Merkel den Juden in Deutschland zugesichert. In ganz Europa bewachen nun Polizisten und Sicherheitsleute Synagogen, jüdische Schulen und Kindergärten besonders aufmerksam - absolute Sicherheit können sie nicht versprechen.

Juden in Frankreich
:"Man hasst uns, wir sind Freiwild"

Weil sie Juden waren, hat der Attentäter Amedy Coulibaly in einem koscheren Supermarkt vier Menschen getötet. Bereits in den vergangenen Jahren gab es brutale antisemitische Übergriffe. Die jüdische Gemeinde in Frankreich ist zunehmend verunsichert.

Von Alex Rühle und Danny Leder

Entsprechend verunsichert sind Europas Juden, je nach Schätzung eine bis 1,5 Millionen Menschen. Allein aus Frankreich sind im vergangenen Jahr 6700 Juden nach Israel ausgewandert, dramatisch nun der Appell von Hollande und Merkel an die Juden in ihren Ländern: Bleibt!

Mit ungewissem Erfolg. "Wir gehen!" schreibt der jüdische Publizist Rafael Seligmann in der Wochenzeitung Die Zeit. 70 Jahre nach Adolf Hitlers Tod drohe ein "judenfreies Europa": 1945 hätten noch sechs Millionen Juden in Europa gelebt, heute seien es nur noch etwas mehr als eine Million. Im "von antisemitischen Stereotypen heimgesuchten" Europa werde der Prozess weitergehen. Und nun hat sich auch noch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eingeschaltet: Kommt! ruft er den verunsicherten Juden zu, "Juden wurden auf europäischem Boden ermordet, nur weil sie Juden waren" - nun sei die Zeit gekommen, nach Israel zu gehen.

Zuwanderer sind für Israel lebenswichtig

Netanjahus Äußerung ist auch innenpolitisch motiviert: Zuwanderer sind für den kleinen jüdischen Staat lebenswichtig. Erst am Sonntag hat die Regierung in Jerusalem ein Hilfsprogramm für Neueinwanderer aufgelegt, umgerechnet 40 Millionen Euro stellt sie zusätzlich bereit, um Juden vor allem aus Frankreich, Belgien und der Ukraine einzugliedern. Neubürger bekommen von der Jewish Agency einen "Aufnahme-Korb", samt Hebräisch-Intensivkurs und Mietzuschuss.

Besonders wirbt das Land um junge Leute. Bis zum 26. Lebensjahr darf jeder Jude weltweit einmal zu einer zweiwöchigen, kostenlosen Rundreise nach Israel kommen; der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist genauso inklusive wie die Expedition ins Nachtleben. Der Erfolg kann sich sehen lassen: 24 064 Einwanderer zählte Israel im vergangenen Jahr, trotz des Gazakrieges. Im Jahr zuvor waren es nicht einmal 17 000 gewesen.

Der Aufruf zur Auswanderung nach Israel rührt aber auch an den bald 120 Jahre alten Streit zwischen den Zionisten, die das "Hinaufgehen" (Alija) nach Israel propagierten und jenen Juden, die ihre Heimat in Europa sehen. Theodor Herzls 1895 geschriebenes Buch "Der Judenstaat" war eine Reaktion auf den in Europa, vor allem in Frankreich grassierenden Antisemitismus: Wenn Europa die Juden nicht mehr wolle, müssten sie sich selber eine Heimstatt schaffen, meinte er. Das sei die Kapitulation vor den Judenfeinden, sagten schon damals seine Kritiker.

Nach der Schoah ging der Vorwurf aus Israel vor allem an die Juden in Deutschland: Wie könnt ihr nur im Land der Mörder leben! Der Zentralratspräsident Ignatz Bubis stritt darüber mit Israels Präsident Ezer Weizmann, und als 1991 Bundeskanzler Helmut Kohl eine großzügige Einwanderungsregelung für Juden aus der ehemaligen Sowjetunion schuf, reagierten israelische Politiker pikiert. Nun, nach den Anschlägen in Brüssel, Paris, Kopenhagen, hat die Debatte eine neue Dimension erhalten: Mehr denn je erscheint Israel als sicherer Hafen für Juden aus aller Welt gegen Judenfeindschaft.

Den Terroristen recht geben?

Allerdings sehen das längst nicht alle Juden so - Netanjahus Aufforderung zur Auswanderung trifft auf breite Kritik. "Frankreichs Juden sind eine französische Angelegenheit", schreibt die jüdische Publizistin Elisabeth Lévy, Netanjahu solle sich heraushalten. Der Schriftsteller David Ranan, der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammt, in Israel aufwuchs und nun in London lebt, hält die Debatte für "hysterisch": "Wenn überall zu lesen ist, dass die Juden nach Israel auswandern, überlegt man irgendwann, ob man etwas falsch macht, wenn man bleibt." Von den seit Kriegsende aus Europa ausgewanderten fünf Millionen Juden seien übrigens die meisten aus der Sowjetunion gekommen - "man darf jetzt nichts verharmlosen, aber auch keine Panik schüren".

Lars Vilks zu den Anschlägen von Kopenhagen
:"Wir verhandeln nicht mit Mördern"

Als die Schüsse fielen, versteckten ihn seine Leibwächter in einem Lagerraum voll Bier. Im Interview erzählt der schwedische Künstler Lars Vilks, wie er die Attacke erlebt hat - und warum er sich nicht einschüchtern lässt, obwohl er sich verstecken muss.

Von Silke Bigalke

Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hält wenig von Auswanderungs-Aufrufen. Die Verunsicherung in den Gemeinden sei spürbar gewachsen, erzählt er, "vor allem bei Eltern, deren Kinder in jüdische Schulen und Kindergärten gehen". Erst gestern habe er mit zwei Paaren geredet, die nicht mehr wüssten, was sie tun sollten - er habe für das Vertrauen in die Polizei geworben, "aber natürlich kann ich nicht garantieren, dass es keinen Anschlag gibt".

Das allerdings könne auch Benjamin Netanjahu in Israel nicht versprechen. Wer aus Angst gehe, der gebe den Terroristen recht. "Israel ist unsere Lebensversicherung", sagt Schuster. Und die Heimat? Da erzählt er die Geschichte des Bekannten, der ihn fragte: "Reisen Sie wieder in die Heimat?" Nein, antwortete er, "ich fliege dieses Jahr nicht nach Würzburg".

© SZ vom 18.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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