Juden in Frankreich:"Man hasst uns, wir sind Freiwild"

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Französische Juden trauern in Tel Aviv um die Opfer des Terroranschlags in Paris (Foto: AP)
  • Die jüdische Gemeinde in Frankreich ist zunehmend verunsichert. 7000 haben im vergangenen Jahr Frankreich verlassen und sind nach Israel gegangen. So viele wie nie zuvor.
  • Nachdem bei der Geiselnahme in einem koscheren Supermarkt in Paris vier Juden erschossen werden, dürfen am Samstag keine Gottesdienste in den Synagogen abgehalten werden.
  • Der Antisemitismus in Frankreich geht zwar zurück, doch es gab in den vergangenen Jahren mehrere brutale Übergriffe gegen Juden.

Von Alex Rühle und Danny Leder, Paris

Da brausen plötzlich zwei Polizeimotorräder auf der Avenue Jean Jaurès entlang. Nicht, dass das in diesen Tagen in Paris etwas Besonderes wäre, die Stadt wimmelt momentan von Polizisten. Und nebenan, im Park, findet eine große Demonstration statt, weshalb nochmal mehr Aufgebot in den umliegenden Straßen steht. Die Polizisten auf der Avenue erregen trotzdem Aufmerksamkeit, sie haben nämlich ihre Pistolen gezückt und fahren einhändig über den Boulevard. Dann biegen sie in die Rue Armand Carrel.

Kurz darauf stehen dort etwa 40 schwerbewaffnete Einsatzkräfte vor einem Eckhaus, in dem eine Synagoge ist. Nachbarn haben sie gerufen, weil sie Schüsse gehört haben wollen. Im Inneren sind 60 Gläubige, die dort ihren Gottesdienst abhalten.

Nachbarn kommen auf die Straße. Zwei Frauen weinen, ihre Familien sind drüben in der Synagoge. Beide sagen, sie seien entschlossen, Frankreich zu verlassen. "Wie sollen wir hier noch leben? Sie können uns nicht schützen", sagt die eine, "ich habe meine Kinder seit vier Tagen nicht in die Schule geschickt."

"Ich habe seit zwei Jahren eine Waffe"

Die andere scrollt auf ihrem Handy zu einem Foto, das vor ein paar Wochen auf ihrem Facebook-Account gepostet wurde. Man sieht Leichenberge aus einem KZ. Unter dem Bild steht: "Nur ein toter Jude ist ein guter Jude." Sie sagt: "Ich bin Französin, ich wurde hier vor 53 Jahren geboren. Mein Großvater ist 1918 für Frankreich gestorben." Wörtlich sagt sie: Il est mort pour la patrie, er starb für die Heimat.

"Heimat!", ruft ein empörter Mann mit Kippa auf dem Kopf. "Was ist das für eine Heimat, wenn wir hier nicht mal mehr unsere Gottesdienste abhalten können?" Er spielt an auf die Anweisung der Polizei nach der Geiselnahme im koscheren Supermarkt am Tag zuvor, bei dem vier Juden erschossen wurden: an diesem Samstag keine Gottesdienste in den Synagogen abzuhalten. Das hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Der Mann, er heißt Daniel und ist 43 Jahre alt, sagt, er wisse nur eins: "Wir müssen Frankreich und Europa verlassen. Man hasst uns. Wir sind Freiwild. Ich habe seit zwei Jahren eine Waffe."

7000 Juden haben im vergangenen Jahr Frankreich verlassen und sind nach Israel gegangen. So viele wie nie zuvor. 2013 waren es etwa halb so viele. Zu diesen 7000 kommen viele Hundert, die in die USA, nach Kanada oder Australien gezogen sind. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Frankreich mit 500 000 Gläubigen die größte jüdische Gemeinde in Europa hat; auch wenn man relativierend dazusagen kann, dass manche von ihnen Frankreich wegen der Wirtschaftskrise den Rücken kehren; selbst wenn man bedenkt, dass bislang ein Drittel derer, die gingen, irgendwann wiederkamen: Die Zahl 7000 ist trotzdem erschreckend.

Die Politologin Nonna Mayer sagte vor den Anschlägen, die Verdoppelung müsse man "politisch sehr ernst nehmen." Sie konstatiert seit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 "eine kontinuierliche Zunahme der Drohungen und Gewaltakte gegen Juden".

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Juden, die die Kippa tragen, werden auf der Straße beschimpft und bespuckt, Schulbusse mit Steinen beworfen, Geschäfte verwüstet. Statistiken des französischen Innenministeriums belegen, dass von sämtlichen als rassistisch eingestuften Taten knapp die Hälfte gegen Juden gerichtet ist - und das bei einem Bevölkerungsanteil von weniger als einem Prozent.

Im Umkreis von einem Kilometer rund um die gerade abgesicherte Synagoge in der Rue Armand Carrel gab es seit dem 22. Dezember vier kleinere Anschläge: Auf eine Druckerei, eine Synagoge und ein koscheres Restaurant wurde geschossen, in einem Gemeindehaus wurde ein Feuer gelegt.

Als der jüdische Jugendbetreuer und Pädagogik-Experte Bernard Zanzouri kürzlich in der Vorstadt Créteil eine Schülergruppe fragte, wer schon mal aufgrund seines Judentums Gewalt erfahren hat oder gemobbt wurde, haben sich ausnahmslos alle Kinder gemeldet. Zanzouri sagt, viele Eltern würden ihre Kinder nach Israel schicken, "damit wenigstens sie sich in einer ruhigen Situation befinden. Viele Familien übersiedelten sogar während des Kriegs in Gaza, als Raketen auf Israel niedergingen."

Dabei wäre es falsch, "den Franzosen" steigenden Antisemitismus vorzuwerfen. Natürlich, es gibt Kritik an der israelischen Siedlungspolitik. Es gibt alte Kräfte beim Front National, die an ihren antisemitischen Stereotypen festhalten. Es gibt den franko-afrikanischen Volksverhetzer, sich als Komiker bezeichnenden Dieudonné M'bala M'bala, der bei seinen Auftritten Sätze sagt wie: "Der Genozid an den Indianern, das war das Schlimmste. Daneben war die Sache in Polen während des Krieges wie ein Urlaub im Club Méditerranée."

Über den Journalisten Patrick Cohen, der ihn kritisiert hatte, zog Dieudonné her: "Sollte sich der Wind drehen, bin ich nicht sicher, ob er genug Zeit haben wird, seine Koffer zu packen. Wenn ich ihn reden höre, denke ich, die Gaskammern - schade." Seinem Erfolg tut solche offen anti-jüdische Hetze keinen Abbruch. Im Gegenteil: Seit er 2004 mit diesen Tiraden anfing, wurde er für immer mehr Franko-Araber zur Kultfigur. Dieudonné tritt auch in diesen Tagen vor ausverkauften Hallen auf, am Freitag war er in Pau, am Samstag in Toulouse und hielt jeweils eine Rede, die er als Plädoyer für die Rede- und Pressefreiheit ausgab.

Antisemitische Vorurteile gehen zurück

Trotzdem, nochmal: Es wäre falsch, "die Franzosen" als Antisemiten abzustempeln. Nonna Mayer sagt, alle Untersuchungen zeigten, dass die antisemitischen Vorurteile seit Jahren zurückgehen und noch nie so gering waren. Polizei und Justiz reagieren in den meisten Fällen schnell und scharf auf antijüdische Übergriffe. Die Politiker, ob nun Regierung oder Opposition, lassen nicht den geringsten Zweifel an ihrem Engagement zur Verteidigung der jüdischen Mitbürger.

Am Samstagabend erschien Premierminister Manuel Valls auf einer Demonstration vor dem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes und sagte: "Gestern gab es nach dem Ende der beiden Polizeiaktionen eine Art Erleichterung. Aber wir dürfen darüber nicht vergessen, dass hier vier Menschen getötet wurden, weil sie Juden waren. Das ist unerträglich. Indem man die Juden angreift, greift man Frankreichs Fundament an, unser Zusammenleben. Ich weiß, dass sich die Juden schon seit längerem in unserem Land fürchten. Frankreich ohne Juden wäre nicht mehr Frankreich. Die Republik ohne die Juden wäre nicht die Republik."

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Es sind fast ausnahmslos Jugendliche oder junge Männer aus muslimischen Familien, die für die antisemitischen Übergriffe verantwortlich sind. Nein, das heißt nicht, dass der Islam per se gewalttätig ist. Die überwiegende Mehrheit der fünf Millionen französischen Muslime lebt ein friedliches Leben, es gab diese Woche Tausende und Abertausende von muslimischen Solidaritätsbekundungen für die Ermordeten und Empörung über die Attentäter.

Sie alle wissen, das sich der ohnehin tiefe Graben zwischen der Mehrheitsgesellschaft und ihnen durch diese Taten weiter vertiefen wird. Aber es gibt eine Art popkulturellen Islamofaschismus, der in den Vorstädten mittlerweile widerwärtige Folgen zeitigt.

Roger Cukierman, der oberste Repräsentant der Juden des Landes, sagte, 2014 sei "ein katastrophales Jahr für die Juden in Frankreich" gewesen. Zuletzt hatten kurz vor Weihnachten in Créteil drei Jugendliche ein jüdisches Paar in deren Wohnung überfallen und misshandelt, damit sie ihnen verraten, wo sie ihr Geld versteckt haben.

"Ich habe ihnen gesagt, dass wir unser Geld auf der Bank haben", erzählte der Mann später der Polizei, "aber sie antworteten: Juden bringen ihr Geld nicht auf die Bank". Daraufhin vergewaltigten die Gangster seine Frau und zerstörten jüdische Kultgegenstände. Es war bestürzend für die französischen Juden, wie wenige nichtjüdische Mitbürger zur anschließenden Protestdemonstration kamen.

Coulibaly wollte wohl eine jüdische Schule überfallen

Der Fall erinnert wegen des Vorurteils vom reichen Juden an die grauenhafte Ermordung von Ilan Halimi: Der 23 Jahre alte Sohn einer marokkanischen, jüdischen Einwandererfamilie wurde 2006 in der Pariser Banlieue von einer Gang in einen Keller gelockt und dort eingesperrt. Seine Peiniger folterten ihn wochenlang und wollten 450 000 Euro von seiner alleinerziehenden Mutter erpressen. Insgesamt 21 Jugendliche waren an den Folterungen beteiligt.

Als die Gang bemerkte, dass die Mutter kein Geld hatte, riefen sie einen Rabbi an und sagten, er solle in seiner Gemeinde das Geld einsammeln. Nach 24 Tagen fesselten sie Halimi nackt an einen Baum. Er starb wenig später an den Folgen von Verätzungen, Verbrennungen, Messerstichen und anderen Verwundungen.

Auch der Überfall auf den koscheren Supermarkt mit den vier Toten hat einen Vorläufer: Im März 2012 exekutierte der franko-algerische Al-Qaida-Anhänger Mohammed Merah in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer. Auch Merah war ein Migrantenkind aus prekären Verhältnissen, nach einer eher haltlosen Jugend ohne Vater hatte er sich dem Islamismus zugewandt.

Vieles deutet daraufhin, dass Amedy Coulibaly schon bei seinem Mord an der jungen Polizistin am Donnerstagmorgen eigentlich Mohammed Merah nacheifern und eine jüdische Schule überfallen wollte. Stattdessen nahm er am nächsten Tag eben einen Supermarkt ins Visier. Hauptsache jüdisch. Wie schrieb doch ein Franzose auf Twitter: "Die Zeichner sind gestorben, weil sie gezeichnet haben. Die Polizisten, weil sie uns beschützt haben. Die Juden - weil sie Juden waren."

Nach einer Stunde hat am Samstag der Spuk vor der Synagoge in der Rue Armand Carrel ein Ende. Es war ein Fehlalarm, die Polizei zieht ab, die Gläubigen dürfen die Synagoge verlassen und hasten nach Hause. "Wir dürfen am Sabbat ja kein Handy benutzen", sagt Eric Goldenstein, ein feiner Herr, der mit seinem 15-jährigen Sohn Meir in der Synagoge war. "Jetzt machen sich unsere Familien Sorgen, wo wir so lange bleiben."

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Goldenstein wirkt gemäßigt und gefasst, aber auf die Frage, ob er überlege, das Land zu verlassen, sagt er: "Ich will Ihnen als Deutschem nicht zu nahe treten, aber mich erinnert die Situation sehr an die Dreißigerjahre. Ich will hier nicht weg. Aber wir müssen wohl gehen."

Die Wochenzeitung Actualité Juive brachte übrigens am Tag, bevor das Grauen in dem Supermarkt begann, eine Titelgeschichte zum Thema Auswanderung: "Jedem seine Gebrauchsanweisung".

Mitarbeit: Danny Leder

© SZ vom 12.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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