Ursachenforschung:Nato gibt Kabul Mitschuld

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Afghanistan habe die Nato vor ein Dilemma gestellt, erklärte Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel. (Foto: VIRGINIA MAYO/AFP)

Generalsekretär Stoltenberg klagt, die politische Elite in Afghanistan habe den Taliban nichts entgegensetzen können. Die EU-Außenminister beraten über eine gemeinsame Haltung zu den neuen Machthabern.

Von Björn Finke, Brüssel

Das Verteidigungsbündnis Nato gibt der afghanischen Regierung eine Mitschuld an der schnellen Niederlage gegen die Taliban: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Dienstag in Brüssel, "Teile der afghanischen Sicherheitskräfte" hätten mutig gekämpft, aber "letztlich hat es die politische Führung Afghanistans versäumt, den Taliban die Stirn zu bieten und die friedliche Lösung zu erreichen, die die Afghanen verzweifelt wollten". Der norwegische Diplomat ergänzte, die Nato habe vor einem Dilemma gestanden: Das Bündnis habe "nie vorgehabt, für immer zu bleiben". Hätten sich die Nato-Regierungen gegen einen Rückzug entschieden, hätte "das Risiko eines endlosen Konflikts bestanden".

Doch die Entwicklungen in Afghanistan machten ihn "sehr traurig", sagte Stoltenberg. Die Nato könne daraus viele Lehren ziehen, sie müsse "ehrlich und scharfsichtig" untersuchen, wieso Afghanistan so schnell an die Taliban gefallen ist, trotz eines teuren und zwei Jahrzehnte langen Nato-Einsatzes mit vielen Opfern.

Stoltenberg sagte, wichtigste Aufgabe der Nato sei nun, Personal und Ortskräfte außer Landes zu bringen. Der Flughafen in Kabul sei wieder einsatzfähig; die Nato-Staaten haben dem Generalsekretär zufolge versprochen, mehr Flugzeuge zu schicken. Er rief die Taliban dazu auf, den Weg zum Flughafen sowie Grenzübergänge offen zu halten und Ausreisewillige nicht zu stoppen.

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Am Dienstagnachmittag sprachen zudem die EU-Außenminister in einer Videokonferenz über Afghanistan. An diesem Mittwoch werden sich dann die EU-Innenminister zum Flüchtlings-Thema austauschen. Die Konferenz war schon länger geplant und sollte sich zunächst nur der Lage an der Grenze zwischen Litauen und Belarus widmen. Dort schickt die Regierung von Belarus gezielt Migranten nach Litauen und damit in die EU. Nun steht auch Afghanistan auf der Tagesordnung.

Maas fordert gemeinsames Vorgehen der EU

Bundesaußenminister Heiko Maas sagte vor der Konferenz mit seinen Amtskollegen, sie wollten dort über eine gemeinsame Haltung zu den Taliban und eine geschlossene Reaktion auf die Geschehnisse sprechen. Der SPD-Politiker betonte, dass Afghanistans Nachbarländer Unterstützung bei der Versorgung der Flüchtlinge bräuchten. Hier sei ein "gemeinsames europäisches Vorgehen" nötig.

Nach der Unterredung sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, dass man mit den Taliban werde sprechen müssen, da sie den Krieg gewonnen hätten. Eine Zusammenarbeit der EU mit einer künftigen afghanischen Regierung hänge jedoch davon ab, dass es eine friedliche und inklusive Einigung in Kabul gebe und Grundrechte respektiert würden. Der Spanier kündigte in einer Erklärung im Namen der EU Hilfen für Afghanistans Nachbarstaaten an, um Flüchtlinge zu versorgen.

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Bereits am Montagabend hatten sich wichtige Europaabgeordnete dafür ausgesprochen, dass die EU ihre Politik gegenüber Afghanistan neu ausrichtet: Russland und China würden schnell versuchen, nach dem Abzug der westlichen Truppen das politische Vakuum zu füllen. Daher sollte die EU insbesondere Pakistan, Iran und Indien ermutigen, eine konstruktive Rolle in Afghanistan zu spielen, schrieben der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses David McAllister (CDU), der Chef des Entwicklungshilfe-Ausschusses Tomas Tobé (ein schwedischer Christdemokrat) und der Leiter der Afghanistan-Delegation Petras Auštrevičius (ein litauischer Liberaler) in einer gemeinsamen Stellungnahme.

Im Moment habe jedoch humanitäres Handeln Vorrang, heißt es in dem Schreiben. "Wir tragen eine moralische Verantwortung für jene, die für EU-Einrichtungen, für Nato-Partner und andere internationale und zivilgesellschaftliche Organisationen tätig waren", erklärten die EU-Parlamentarier.

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