Das ist Zulauf, im wahren Sinne des Wortes. Mehr Menschen denn je, und weit mehr, als sich die örtlichen Initiatoren erträumt hatten: 6700 Menschen zogen am Montag durch Essen, die Veranstalter hatten mit 600 Demonstranten kalkuliert. Tags drauf in Köln schlenderten 30 000 Bürgerinnen und Bürger über den Heumarkt, etwa 30-mal mehr als angemeldet. Selbst in Castrop-Rauxel zogen 1100 AfD-Gegner vors Rathaus, fast das Vierfache der erwarteten Zahl. Und so könnte es weitergehen im Westen, am Freitag waren Kundgebungen in Münster, Bochum oder Bielefeld geplant, am Samstag in Dortmund, Aachen, Düsseldorf. Nordrhein-Westfalen, so will es diese Woche scheinen, rafft sich auf gegen rechts. Mehr jedenfalls als die übrige Republik.
Aber stimmt das? Und falls ja - warum? Wissenschaftler mahnen zur Vorsicht. "Proteste verlaufen in Wellen", sagt Larissa Daria Meier, "und ob das anhält, wissen wir heute noch nicht." Die Konfliktsoziologin der Uni Bielefeld glaubt zwar, dass die Enthüllungen des Recherchenetzwerks Correctiv über ein rechtsextremes Treffen in Potsdam, bei dem identitäre Ideologen Pläne für eine massenhafte Ausweisung von Zuwanderern und sogar deutschen Staatsbürgern ausbreiteten, "einen Trigger-Punkt, einen Anlass" schufen für die aufwallenden Anti-AfD-Proteste. Nur, das gelte für ganz Deutschland, nicht nur für das Bundesland zwischen Rhein und Weser.
Überraschend ist für Meier auch nicht, dass die längsten Demonstrationszüge durch Universitätsstädte marschieren: "Junge Studierende sind generell in Protesten stark vertreten." Und NRW zählt (nach Baden-Württemberg) mit 71 Unis die meisten Hochschulen in Deutschland - und die allermeisten Studierenden (aktuell knapp 720 000). Ob sich da, wie es in Essen und Köln schien, nun die sonst "schweigende Mehrheit" aufraffe, sei hingegen nicht abzusehen.
Erkennbar sei allerdings, so die Soziologin, dass inzwischen nicht nur die üblichen antifaschistischen Gruppen oder die Gewerkschaften mobilisieren gegen die AfD. Rechte und Rechtsextreme hätten ihr Themen-Spektrum erweitert, weshalb es nun wiederum "relativ breitere Bündnisse" gebe gegen die AfD als "sichtbaren Teil" dieser Rechten. AfD-Politiker haben sich also neue Gegner wie Wohlfahrtsverbände oder "Fridays for Future" geschaffen, weil sie gegen Sozialleistungen für Ausländer polemisieren oder noch immer Zweifel am menschengemachten Klimawandel schüren. Ob da eine noch breitere gesellschaftliche Allianz von AfD-Gegnern heranwachse, bleibe jedoch offen, so Meier: "Das hängt davon ab, ob sich neue Netzwerke bilden, die den Protest aufrechterhalten." In Essen, so berichtet ein Sprecher von "Essen stellt sich quer", wolle die CDU schon deshalb nicht mitmachen, weil ihr Bündnis die DKP dulde.
In NRW sitzt die AfD erst seit 2017 im Landtag
Aber vielleicht befeuern auch historische Gründe den neuen Widerstand im Westen? Wahlanalysen der Weimarer Republik zeigen: Anders als in vielen Teilen Deutschlands votierten die Wähler in den damals preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen, den beiden NRW-Vorläufer-Regionen, mehrheitlich stets für die demokratische Mitte: Die sogenannte "Weimarer Koalition" - das katholische Zentrum, die SPD und die linksliberale DDP - errang hier bis zur sogenannten "Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 stets mehr Stimmen als die Gegner der Republik. Und während es NPD oder Republikaner in der Bundesrepublik in manche Landtage schafften, dauerte Ähnliches in Düsseldorf bis 2017: Seither sitzen AfD-Abgeordnete im hohen Haus am Rhein.
Doch auch Historiker warnen vor schnellen Schlüssen. "Ich bin bei solchen historischen Herleitungen sehr vorsichtig", sagt Tim Schanetzky vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Das gelte auch für den angeblichen "Mythos vom Schmelztiegel" des Ruhrgebiets: "Deutsche Kumpel und türkische Arbeiter hatten über Tage nichts miteinander zu tun." Wichtiger als Erklärung für Anti-AfD-Proteste sei die Gegenwart, die Realität. Im Revier würden die Bürger klarer begreifen, was krude Pläne für eine Massenausweisung von Zuwanderern bedeuteten: "Das würde die Bevölkerungsmehrheit ganzer Stadtteile treffen." Deshalb sei vorigen Montag in Essen "die Mitte der Gesellschaft auf die Straße gegangen".
Bisher gab es in NRW nie wirkliche Hochburgen für Rechtspopulisten. Das aber könnte sich ändern, schon bei der Europawahl im Juni. In ihrem letzten, noch vagen "Eurotrend" schätzt die Website Wahlkreisprognosen.de, die AfD könne in Duisburg oder Oberhausen, in Gelsenkirchen, Herne oder Hagen erstmals stärkste Partei werden. Was dann wohl Anlass für eine neue Protestwelle wäre.