Yoga in Moskau:"Russen mögen es härter"

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Zu Sowjetzeiten waren die Übungen verboten, mittlerweile hat sich Moskau zur Yoga-Metropole hochmeditiert - viele Russen suchen in all der Hektik spirituelle Einkehr.

Sonja Zekri, Moskau

Letztens am Flughafen war wieder so eine Situation. Im Strom der Vorbeihastenden baut sich eine Matrone in Uniform auf und herrscht mit einer Stimme wie eine Guillotine: "Passagiere für Flug AB 4350 gehen unverzüglich zu Gate 14! Sie! Gehen! Jetzt!! Zum!! Gate!!!" In Zone B werden Ankömmlinge aus Zentralasien behandelt wie entflohene Sträflinge. Natürlich sagt kein Grenzer ohne Gesichtsverlust: "Guten Tag."

Gelenkiger Guru: Michail Konstantinow bei einer schwierigen Yoga-Übung in Moskau. (Foto: Foto: Ashtanga-Zentrum, oh)

Willkommen in Moskau, Stadt des Sonnengrußes und der inneren Harmonie. Zwischen Kiew und Kamtschatka wird nirgends so hart an der Reinigung der Chakren gearbeitet wie hier. Unbemerkt vom Rest der Welt hat sich Russlands Hauptstadt zur postsowjetischen Yoga-Metropole hochmeditiert. Und doch gibt es jeden Tag Dutzende Momente, in denen davon nicht das kleinste Fitzelchen zu spüren ist.

Viktoria Jewdokimowa ist vor Jahren von Sankt Petersburg nach Moskau gezogen und überbrückt diesen Widerspruch auf ihre Weise. Gerade sucht sie im Studio "New York Moskau" eine neue Yoga-Matte aus. Das NYM liegt im Souterrain, halb Fabrikdesign, halb Teestube, mit weiß gestrichenen Ziegelwänden, Teppichen und einem eindrucksvollen Sortiment an Pu-Err-Tees. "Moskau ist eine harte Stadt mit einem wahnsinnigen Tempo", sagt Viktoria, die in einer Bank arbeitet. "Die zwei Stunden, die am Tag mir gehören, will ich so gut wie möglich nutzen", dann konzentriert sie sich auf ihr drittes Auge.

Der Weg zur Erleuchtung ist weit, aber sie weiß sich in bester Gesellschaft. Ihre Freunde haben ihn beschritten, ihre Schwester, sogar der Präsident. Vor zwei Jahren überraschte der damals noch unbekannte Dmitrij Medwedjew die Russen mit der Behauptung, er beherrsche sogar Shirshasana, den Kopfstand. Anders als Wladimir Putin, der gerne seine Judo-Fertigkeiten vorführt, hat allerdings bislang niemand den Präsidenten auch nur im Lotus-Sitz gesehen, geschweige denn bei der Ausübung des "Königs der Asanas", der wichtigsten Übung.

Aber was kümmern das zweitausendjährige Yoga politische Konjunkturen, wo es gerade so viele neue Anhänger findet. Jede Woche eröffnet in Moskau ein neues Studio. Kein Fitnessclub, der auf sich hält, kann es sich leisten, auf Yoga zu verzichten. Indische VIP-Yogis halten Seminare vor ausverkauften Häusern. Vegetarische Zentren wie das Jagannath in der Nähe des Bolschoi-Theaters bieten Ingwer-Drinks, ayurvedisches Shampoo und Harish Joharis CD "Sounds of Tantra".

"Die ackern sich tot"

Am Autobahnring, der sich wie ein Würgering um die Hauptstadt schlingt, grüßen die verknoteten Botschafter der Yoga-Föderation von riesigen Werbetafeln geradezu provozierend entspannt. Moskau praktiziert Ashtanga- und Iyengar-Yoga, Kundalini-, Raja- und Nidra-Yoga, sogar Thermo-Yoga, das eine Raumtemperatur wie eine russische Banja erfordert, alle Einzelheiten nachzulesen im russischen Yoga-Magazin. Kein Mensch weiß, wie viele Moskauer tatsächlich regelmäßig Hund, Fisch oder Heuschrecke üben, aber Schätzungen gehen in die Zehntausende.

Anne Klein, eine deutsche Yoga-Lehrerin, hat ihren Job bei einer Consulting-Firma in Moskau hingeschmissen und gibt jetzt Kurse für die Business-Elite, ausländische Kulturinstitute, Unternehmensberater, eine Bank. Gibt es einen Unterschied zwischen Yoga in Deutschland und Yoga in Russland? "Absolut", sagt sie: "Russen mögen es härter. Die ackern sich tot." Vielleicht gilt das aber auch nur für jene Spezies, die Yoga gerade für sich entdeckt hat, die beinharten Leistungsträger, die selbst Entspannung noch erzwingen wollen.

Yoga war Dissidenz

Michail Konstantinow ist angesichts der neuen Leidenschaft ohnehin ein bisschen besorgt. Konstantinow ist einer der Großen der Szene, und er war einer ihrer Ersten. Damals, zu Sowjetzeiten, als alles begann, trauten sich wenige, über Yoga auch nur zu reden. Das erste Buch fiel Konstantinow 1978 in die Hände, eine Samisdat-Ausgabe, im Selbstverlag gedruckt und heimlich weitergereicht wie Solschenizyn oder Sacharow. Yoga war Untergrund, war Dissidenz, sagt Konstantinow, "verboten wie alles, was von der Parteilinie abwich, was aus dem Westen kam oder aus dem Osten".

Die Sache wurde für den Yoga-Einsteiger Konstantinow nicht leichter dadurch, dass selbst in diesen geheimen Büchern bei den Fotos jede Anleitung fehlte. Schön und gut, Yoga Nidrasana, Gomukhasana, aber wie kriegt man nun sein Bein hinter den Kopf? Konstantinow fand ein paar Gleichgesinnte, die in Turnhallen oder privaten Wohnungen übten, es waren konspirative Zusammenkünfte: "Jedes Mal wurde uns eingeschärft, dass niemand davon erfahren durfte."

In der Armee verplapperte er sich, er-zählte von den Vorzügen östlicher Philosophie und den Schwächen des Sowjetsystems: "In meiner Naivität hatte ich nicht mitgekriegt, dass jeder zweite Rekrut ein KGB-Agent war." Um ein Haar wäre er wegen antisowjetischer Propaganda im Gefängnis gelandet. Aber da plante er längst nicht nur innere Fluchten: "Hätte sich nichts geändert, ich wäre abgehauen." Zum Glück begann die Perestroika.

Kein Schatten ohne Licht

Fremdes war nicht länger verboten, Konstantinow probierte Karate und Kung-Fu. Allerdings verlangten die Zeiten nicht nach spiritueller Einkehr, sondern nach pragmatischem Überlebensinstinkt. Konstantinow verkaufte auf dem Markt Elektrogeräte und wartete, dass seine Zeit kommt. Mitte der Neunziger war es so weit. Er trainierte in der indischen Botschaft. Erste ausländische Gurus tauchten auf aus Indien, aus der Ukraine, erste Videos mit Anleitungen. 1999 gründete Michail Konstantinow sein eigenes Ashtanga-Zentrum, das mittlerweile 1500 Mitglieder hat. Nach all diesen Risiken und all dieser Zeit wirkt der aktuelle Boom auf ihn ein bisschen unseriös: "Da machen Leute Studios auf, die weder die nötige Ausbildung noch die Motivation mitbringen. Und die diskreditieren den Stand der Yoga-Lehrer und das Yoga überhaupt."

Andererseits - kein Schatten ohne Licht, kein Yang ohne Yin - kann es nur gut sein, findet er, wenn die Mittelklasse mal an was anderes denkt als an geistlosen Konsum und rauschhafte Zerstreuungen sondern an etwas Tieferes, Dauerhafteres, auch in Moskau, gerade hier.

Vielleicht sollte man der Hauptstadt überhaupt Zwangs-Yoga verordnen, 20-mal Sonnengruß jeden Morgen, in Ämtern, im Stau, im Supermarkt, um "befreit von Wünschen, Furcht und Zorn" zu sich selbst zu finden, wäre das nicht eine wünschenswerte Perspektive? Konstantinow denkt nach. Dann sagt er: "Je mehr Menschen Yoga auch nur versuchen, desto besser wird das Karma in diesem Land."

© SZ vom 07.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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