Whatsapp:Schwall und Rauch

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In Brasilien kommen durchschnittlich 1,2 Smartphones auf jeden Einwohner. Am liebsten wird es für Sprachnachrichten genutzt - häufiger als in jedem anderen Land auf dieser Welt. (Foto: joasouza/IMAGO/Panthermedia)

Niemand verschickt mehr Sprachnachrichten als die Brasilianerinnen und Brasilianer. Was sagt das über die Seele des Landes?

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Zum Beispiel Fußball: Fünf Weltmeistertitel hat Brasilien, mehr als jedes andere Land der Welt, durchaus beachtlich, aber wenig erstaunlich, wird in Südamerikas größter Nation doch ständig gekickt, am Strand ebenso wie auf der Straße. Brasilien ist dazu auch Hauptheimat des Amazonas, des größten Regenwaldes der Erde. Der allerdings ist bedroht, vor allem von Viehzucht, und man ahnt es schon: Wer steht auf Platz eins der größten Rindfleischexporteure der Welt? Genau: Brasilien.

Kurz: Superlative können viel verraten über ein Land. Deshalb ist es auch nicht nebensächlich, dass Will Cathcart, der Chef von Whatsapp, vor ein paar Tagen ausgeplaudert hat, dass Brasilien bei dem Nachrichtendienst zwar in Bezug auf die Nutzerzahlen nur an dritter Stelle steht, hinter Indien und Indonesien, dafür aber in einem anderen Bereich ganz vorne liegt: Sprachnachrichten. Nirgendwo würden so viele verschickt wie hier, viermal mehr als in jedem anderen Land der Erde.

Der Grund dafür, glaubt der Chef des Nachrichtendienstes, sei vor allem die "intensive Nutzung". Überspitzt formuliert: Die Brasilianer hängen ständig an Whatsapp, und damit die Finger nicht glühen, schicken sie eben Sprachnachrichten. Punkt. Falsch ist das nicht, aber eben auch nur die halbe Wahrheit.

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Tatsächlich ist Whatsapp in Brasilien omnipräsent. Viele Menschen können sich keinen Computer leisten, wohl aber ein Smartphone, 250 Millionen gibt es im Land, rund 1,2 Geräte pro Einwohner. Auf so gut wie allen ist heute Whatsapp installiert, auch weil die Brasilianer den Dienst nicht nur dazu benutzen, Nachrichten zu verschicken. Sie bestellen auch Pizza über Whatsapp, machen Zahnarzttermine aus, kommunizieren mit Behörden oder bezahlen Rechnungen.

Selbst Unternehmensbosse und Ministeriumsmitarbeiter geben heute bereitwillig ihren Whatsapp-Kontakt heraus. E-Mails? Altmodisch und irrelevant, so wie das geschriebene Wort insgesamt immer unwichtiger wird, stattdessen verschickt man áudios, Sprachnachrichten, drei, vier, fünf Minuten lang - oder noch mehr.

Spätestens hier ist man dann vom Superlativ zur Seele Brasiliens vorgedrungen. Ist es in Teilen Mitteleuropas und Skandinaviens durchaus möglich, dass zwei Freunde einträchtig nebeneinandersitzen und über mehrere Minuten hinweg schweigen, so fällt das Brasilianern schon bei Fremden schwer. Im Aufzug wird gequatscht, ebenso wie in der Schlange vor dem Flughafenschalter. Auf der Straße hält man ein Pläuschchen mit dem Kioskverkäufer, über das Wetter, das Essen oder Fußball. Und sollte doch mal kurz Ruhe sein, holt man das Handy heraus, denn in den letzten 20 Minuten sind bestimmt gleich mehrere Sprachnachrichten eingegangen, von der Mama, der Freundin, dem Kollegen: Oi! Tudo bem? Wollte nur mal kurz Hallo sagen!

Das ist das Schöne an der - Verzeihung - ausgesprochenen Mitteilungsfreudigkeit der Brasilianer: Sie bedeutet nicht, dass man auch was zu sagen haben muss. Und das ist vielleicht auch der Grund, weshalb man in noch einer Kategorie Spitzenreiter ist: selbstlöschende Nachrichten. Worte, das wissen auch die Brasilianer, sind am Ende eben doch nur Schall und Rauch.

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