Kassel:NS-Verfolgte: Ghetto-Rente bei Internierung im eigenen Haus

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Blick auf das Bundessozialgericht (BSG). (Foto: Uwe Zucchi/dpa/Archivbild)

NS-Verfolgte haben unter bestimmten Bedingungen auch ohne Zwangsaufenthalt in einem nationalsozialistischen Ghetto Anspruch auf Entschädigung. Das geht aus...

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Kassel/Lübeck (dpa) - NS-Verfolgte haben unter bestimmten Bedingungen auch ohne Zwangsaufenthalt in einem nationalsozialistischen Ghetto Anspruch auf Entschädigung. Das geht aus einem Urteil des Bundessozialgerichts vom Mittwoch hervor. Die Kasseler Richter sprachen einem 91-Jährigen jüdischen Glaubens die sogenannte Ghetto-Rente zu, obwohl der Mann nicht in einem Ghetto, sondern in seinem Wohnhaus leben musste und für das deutsche Militär gegen eine Extraportion Essen arbeitete. Die Bedingungen, unter denen dies erfolgte, seien denen eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto gleichzustellen, so das Gericht. (Aktenzeichen B 13 R 9/19 R)

Der Mann wohnte als Zehnjähriger 1939 im polnischen Sarnów. Die deutschen Besatzer zwangen die jüdische Bevölkerung - drei Familien - den Davidstern zu tragen und bis auf wenige Ausnahmen in ihren Häusern zu bleiben. Im März 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung der Region erschossen, zur Vernichtung deportiert oder in Zwangsarbeitslager verbracht. Der Kläger überlebte den Aufenthalt in zwei Konzentrationslagern und wanderte in die USA aus.

Laut seinem Anwalt kämpft er seit vielen Jahren um die Rente. Angesichts von Nachzahlungen seit 1997 gehe es um 30 000 bis 40 000 Euro. Die Deutsche Rentenversicherung Nord (DRV) in Lübeck lehnte seinen Antrag mit Verweis auf das entsprechende Gesetz ab: „Das Problem ist, dass der Ghettobegriff nicht definiert ist.“ Gängige Kriterien seien aber: Absonderung, Internierung und Konzentration der Verfolgten. Letzteres sei bei drei Familien nicht gegeben.

Die Kasseler Richter sahen das anders. Geschichtswissenschaftler seien mittlerweile zu der Erkenntnis gelangt, dass NS-Ghettos unterschiedlichste Erscheinungsformen hatten. Bei den meisten habe es sich um „offene Ghettos“ gehandelt, zum Teil ohne klar abgrenzbare Strukturen. Dass der Kläger Ghetto-Arbeiten verrichtete, die unter anderen Umständen Rentenansprüche begründet hätten, sei Unrecht. Es sei daher nötig, „vergleichbare Zwangslagen ebenfalls zu erfassen“.

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