Tschechien:Ein Stundenplan lockte die Polizei auf die falsche Fährte

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Anfang Januar versammelten sich viele Menschen vor der Karls-Universität. Tausende marschierten dann schweigend durch Prag, um der Opfer des Amoklaufs zu gedenken. (Foto: Petr David Josek/dpa)

Zwei Untersuchungsberichte werfen neue Fragen zum Anschlag auf die Prager Universität im Dezember auf. Hätte die Tat, bei der 14 Menschen ums Leben kamen, verhindert werden können, wenn die Behörden besser kommuniziert hätten?

Von Christoph von Eichhorn, Prag

Am Gebäude der Philosophischen Fakultät der Universität Prag ist kein Durchkommen. Die Absperrbänder der Polizei sind zwar weg, aber nun umgibt ein Meer aus Kerzen das Gebäude. Das Haus ist verwaist, der Lehrbetrieb noch bis Februar eingestellt. Zu tief sitzt der Schock über das, was im Inneren des Gebäudes geschehen ist. Am 21. Dezember erschoss hier ein Student der Universität 14 Menschen und dann sich selbst.

Diese Woche veröffentlichten sowohl die Polizei als auch die Karls-Universität jeweils eigene Berichte zum Ablauf der Ereignisse. Sie decken sich weitgehend, werfen aber zugleich Fragen zum Vorgehen der Sicherheitskräfte auf. Diese bewerten den Einsatz am Jan-Palach-Platz in ihrer eigenen Untersuchung als "schnell und professionell". Drei Minuten dauerte es demnach ab dem ersten Notruf um 14.59 Uhr, bis Polizisten das Gebäude betraten. Weitere acht Minuten später hatten sie den vierten Stock erreicht, von wo die Schüsse gemeldet wurden. Zugleich positionierten sich Scharfschützen in einem gegenüberliegenden Hotel. Zu diesem Zeitpunkt hielt der Täter sich bereits auf dem Dach auf und feuerte auch auf Passanten auf der Straße - bis er, unter Druck geraten, sich selbst das Leben nahm.

Eine Streife durchsuchte das Gebäude schon Stunden vor der Tat

Insgesamt waren mehr als 200 Polizisten an dem Einsatz beteiligt. Mit ihrem Eingreifen "konnten sie eine viel größere Tragödie verhindern", sagte der Beamte Josef Jeřábek auf einer Pressekonferenz Mitte dieser Woche. Rund 700 Personen dürften sich insgesamt in dem Gebäude aufgehalten haben, als der Täter zuschlug, schätzt die Universität. Deren Leitung dankte der Polizei für ihr rasches Eingreifen. Der eigene Untersuchungsbericht sei ausdrücklich nicht als Kritik zu verstehen, vielmehr wolle man damit die Perspektive der Universitätsmitarbeiter abbilden.

Gerade in deren Aussagen schimmert jedoch mindestens Unverständnis über die Kommunikation der Behörden durch. So war schon um 13.30 Uhr eine Streife der Polizei am Jan-Palach-Platz, um nach dem Rechten zu sehen. Zu diesem Zeitpunkt fahndeten die Behörden bereits fieberhaft nach dem 24-jährigen Studenten, auch weil kurz zuvor in einem Vorort die Leiche seines Vaters entdeckt worden war. Im Bericht der Universität gibt ein Pförtner an, die Polizisten hätten ihm ein Foto des Verdächtigen gezeigt und nach dessen Aufenthaltsort gefragt, jedoch nicht erklärt, warum nach ihm gesucht werde.

Aufgeschreckt von der Polizeipräsenz bot Prodekan Daniel Berounský den Beamten nach eigener Aussage an, dass diese direkt die Leitung der Fakultät über die Situation informieren könnten. Diese traf sich gerade im ersten Stock zu einer Sitzung. "Der Polizist ging nicht auf dieses Angebot ein." So blieb die Leitung der Fakultät ohne genaue Kenntnis der Lage. Nach einer kurzen Durchsuchung des Gebäudes zogen die Beamten wieder ab. Ein Stundenplan des Studenten hatte sie auf eine falsche Fährte gelockt. Dieser hätte an diesem Tag ausschließlich in einem anderen Gebäude der Fakultät in der Innenstadt Unterricht gehabt, welches in der Folge auch geräumt wurde. Warum nicht auch die Menschen im Hauptgebäude in Sicherheit gebracht wurden, ist bislang offen. "In Zukunft lässt sich in ähnlichen Fällen nur anraten, eine bessere Krisenkommunikation mit den betroffenen Institutionen zu wählen", räumt dazu auch Michal Tikovský ein, der Leiter der Kontrollbehörde der Polizei.

In einem Ministerium lief eine Weihnachtsfeier einfach weiter

Auch politisch dauert die Aufarbeitung an. Unter Druck geraten ist etwa Arbeits- und Sozialminister Marian Jurečka. In dessen Ministerium war zum Zeitpunkt des Amoklaufs eine Weihnachtsfeier im Gange. Diese wurde selbst dann nicht abgesagt, als das Ausmaß der Tat längst bekannt war. Jurečka selbst will erst mehr als zwei Stunden nach den ersten Nachrichtenmeldungen über die Schüsse von der Tat erfahren haben. In seinem Fall ist das besonders heikel, weil der Christdemokrat zugleich Mitglied des nationalen Sicherheitsrats Tschechiens ist. Vor einigen Tagen hat Jurečka sich für sein Verhalten entschuldigt, es sei ein Fehler gewesen, die Feier nicht sofort abzubrechen.

Viele Tschechen fragen sich zudem, wie es sein kann, dass ein 24-jähriger Student sich legal acht Waffen beschaffen kann, noch dazu auf Pump, wie kürzlich bekannt wurde. Eine Gesetzesnovelle sieht nun vor, dass verdächtige Käufe künftig gemeldet werden sollen. Allerdings war der Entwurf schon vor dem Amoklauf erarbeitet worden. Nach der Tragödie könnte das Gesetz jetzt nochmals verschärft werden.

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