SZ-Kolumne "Bester Dinge":Eine Kelle zum Abbiegen, eine Kerze als Licht

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Autosammler Karl-Heinz Rehkopf fährt mit der Benz Victoria Nummer 99 zur Hauptuntersuchung beim TÜV Nord in Einbeck vor. (Foto: Swen Pförtner/dpa)

In anderen Ländern werden gefährliche Fahrzeuge verschrottet. Und in Deutschland? Feiert man es, wenn ein 130 Jahre alter Temposünder erneut durch den TÜV kommt.

Von Martin Zips

Der Mensch und die Technik. Eine Geschichte der permanenten Überforderung und Selbstüberschätzung. "Sehr geehrter Herr Gütermann!", heißt es in dem Strafbescheid aus dem Jahr 1895. "Sie werden hiermit mit M 3.- (drei Mark) in Strafe genommen, weil Sie am gestrigen Sonntag mit Ihrem Benz-Motor-Pferd nachmittags zwei Uhr mit einer derartigen Geschwindigkeit durch Denzlingen gefahren sind, dass in einer Wirtschaft die Vorhänge geflattert haben."

Der Schrieb gilt als das erste Knöllchen der deutschen Geschichte. Der Verfasser, ein "Oberamtmann Krohn" aus Waldkirch im Breisgau, hatte im Mai 1895 offensichtlich im Denzlinger Gasthaus gesessen, als er die Geschwindigkeitsüberschreitung des um die 30 Stundenkilometer schnellen, vom Textilfabrikanten Gütermann gelenkten Benzin-Boliden bemerkte.

Dass Autos gefährlich sind, war schon damals bekannt. Nur wenige Jahre zuvor war die irische Naturforscherin Mary Ward als erstes Kraftfahrzeugopfer der Welt unter eine fahrbare Dampfmaschine geraten. Die Dampfmaschine sollen sie in Irland gleich nach dem tödlichen Unfall verschrottet haben. Viel zu gefährlich für den Menschen, diese neue Technik. Nicht so Gütermanns Benz-Motor-Pferd! Der deutsche TÜV hat das mit knapp 130 Jahren mittlerweile wohl dienstälteste Auto der Welt (heute findet es sich in der Fahrzeugflotte des Einbecker Automuseums) einfach so durchgewunken. Alleinige Einschränkung: Zum Abbiegen muss eine Kelle mitgeführt werden und wegen des Kerzenlichts in den Scheinwerfern darf nur bei Helligkeit gefahren werden. Aber sonst: Alles top! Und so darf der Benz Victoria Nr. 99 auch die nächsten zwei Jahre wieder durch die Gegend fetzen.

Der arme Oberamtmann Krohn, er dürfte sich im Grabe umdrehen. Doch so ist das eben in einem Land, in dem sie noch nicht mal ein Tempolimit hinbekommen. Weil's doch so schön ist, irgendwo die Vorhänge flattern zu lassen.

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