Urteil im Lügde-Prozess:Haupttäter zu langen Haftstrafen und Sicherungsverwahrung verurteilt

Erste PlâÄ°doyers im Prozess um den Missbrauchsfall L¸gde

Über zwei Jahrzehnte missbrauchte Andreas V. kleine Mädchen auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)
  • Im Prozess um den hundertfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde hat das Gericht hohe Haftstrafen verhängt und anschließende Sicherungsverwahrung für die zwei Hauptangeklagten angeordnet.
  • Das Landgericht Detmold verurteilte einen der Männer zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren, der andere erhielt zwölf Jahre.
  • Die juristische Aufarbeitung des Falls Lügde geht aber weiter.

Von Jana Stegemann, Detmold

"Nach wie vor fällt es schwer, das Geschehen in Worte zu fassen", sagt die Vorsitzende Richterin Anke Grudda. Worte wie "abscheulich, monströs, widerwärtig" reichten nicht aus. "Auch nach zehn Verhandlungstagen bleibt die Fassungslosigkeit." In dem Prozess um den vielfachen Kindesmissbrauch von Lügde hat das Landgericht Detmold am Donnerstagmorgen das Urteil gegen die zwei Hauptangeklagten verkündet: Der 56-jährige Andreas V. wurde zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt - unter anderem wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs in 223 Fällen, davon in 129 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen. Der 34-jährige Mario S. erhielt zwölf Jahre. Zudem ordnete Richterin Grudda eine anschließende Sicherungsverwahrung für die beiden Deutschen an.

Über zwei Jahrzehnte hinweg hatten die Männer auf einem Campingplatz Kinder sexuell missbraucht - obwohl es immer wieder Hinweise gab, wurden die beiden nicht gestoppt. Die beiden Männer fotografierten und filmten zudem ihre Taten: Bei beiden stellte die Polizei Bild- und Videodateien mit kinderpornografischen Inhalten sicher. Der Missbrauchsfall von Lügde gilt als bisher schwerster Fall von sexueller Gewalt gegen Kinder in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Mehrere hundert Einzeltaten an 34 Mädchen und Jungen waren angeklagt, letztlich wurden die Taten an 32 Opfern verurteilt.

Die Zahl der geschädigten Kinder sei vermutlich viel höher, sagte Richterin Grudda. Wegen des unfassbar langen Tatzeitraums von 20 Jahren dränge sich zudem die Frage auf, warum der Missbrauch so lange unentdeckt bleiben konnte. Sie sprach die Verurteilten mehrfach direkt an: "Sie haben 32 Kinder und Jugendliche zu austauschbaren Objekten ihrer sexuellen Begierden degradiert und 32 Kindheiten zerstört." Die Kammer habe nicht den Eindruck gewinnen können, dass die beiden auch nur ansatzweise verstanden hätten, welche Schuld sie auf sich geladen hätten. "Wir haben hier Kinder im Gerichtssaal erlebt, die unter Schlaflosigkeit, Albträumen, Angstzuständen leiden. Kinder, die sich selbst verletzen", so Grudda.

Der Prozess hatte vor zehn Wochen begonnen. 16 Kinder sagten aus. Aus Opferschutzgründen fand die Verhandlung in weiten Teilen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Am Rande des Prozesses hatten Nebenklägervertreter von schweren Traumata ihrer Mandanten berichtet.

Andreas V. und Mario S. hatten am ersten Verhandlungstag vor dem Landgericht Detmold nahezu alle Taten eingeräumt, das wirkte sich nun strafmildernd aus. Die Verhängung der Höchststrafe von 15 Jahren wäre deshalb nicht revisionsfrei zu begründen, so Grudda, der Bundesgerichtshof würde diese wahrscheinlich bei einer Prüfung aufheben. "Und an einer Wiederholung dieses Prozesses hat nun wirklich niemand ein Interesse." Für das Gericht bestehe aber überhaupt kein Zweifel an der Sicherungsverwahrung. "Sie ist zwingend erforderlich, Sie sind gefährlich."

"Er hat diese Mädchen als Ersatz gewählt, aus Frust"

Eine Gutachterin hatte den beiden Angeklagten in dem Prozess eine "pädophile Störung" sowie eine hohe Rückfallgefahr und Gefährlichkeit attestiert: "Die Verhaltensmuster sind so sehr in seiner Persönlichkeit verankert, dass es schwer wird", sagte Marianne Miller über Mario S. Ob eine Sexualtherapie etwas bringe, könne sie nicht sagen.

Im Fall von Andreas V. hatte sie das Bild eines durchschnittlich intelligenten Mannes mit einer durchschnittlichen Kindheit gezeichnet. Nach einer missglückten Fuß-OP habe Andreas V. viel an Gewicht zugenommen, wurde herzkrank, schließlich arbeitsunfähig. "Er hat diese Mädchen als Ersatz gewählt, aus Frust", sagte die Psychiaterin. Der Dauercamper, der 20 Jahre in einer selbstzusammengebauten Bretterbude am Rande des Campingplatzes lebte, sei nicht in der Lage gewesen, Beziehungen mit Frauen seines Alters zu führen.

Miller attestierte ihm eine antisoziale, narzisstische Persönlichkeit, er neige dazu, Menschen in seiner Umgebung auszunutzen. 2016 bekam Andreas V. mit Billigung des Jugendamts Hameln-Pyrmont ein damals fünfjähriges Pflegemädchen zugesprochen. Allein an diesem Kind soll er sich mindestens 132 Mal vergangen haben. Außerdem hatte er seine Pflegetochter als Lockvogel für andere Mädchen eingesetzt.

Als "kernpädophil" bezeichnete Miller Andreas V., sie legte sich aber nicht fest, ob seine Taten aus krankhaften sexuellen Bedürfnissen rührten oder es ihm um Macht und Überlegenheit ging. Was sie auch in diesem Fall sehr deutlich machte: Sie halte es für sehr wahrscheinlich, dass Andreas V. auch nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe erneut sexuellen Missbrauch an Kindern begehen werde.

Manipulierte Akten, verschwundenes Beweismaterial

Dem Prozess war monatelanges, beispielloses Behördenversagen vorausgegangen. Der Leiter des Jugendamts Hameln-Pyrmont manipulierte die Akte der Pflegetochter von Andreas V., aus den Räumen der Polizei Lippe verschwand ein Aktenkoffer mit sichergestelltem Beweismaterial, Kinder wurden mehrmals unter absurden Bedingungen von ungeschulten Polizisten vernommen. Die Ermittler durchsuchten Andreas V.s Parzelle auf dem Campingplatz mindestens sechs Mal - jedes Mal wurde Beweismaterial übersehen. Später stellt sich heraus: Zu dem Zeitpunkt als Andreas V. seine Pflegetochter zugesprochen wurde, lagen schon mehrere Hinweise gegen ihn vor.

Doch um all das sollte es in dem ersten Lügde-Prozess nicht gehen. Am ersten Prozesstag hatte Richterin Grudda gesagt: "Hier geht es um die individuelle Schuld der Angeklagten, nicht um die Behördenfehler."

Laut Staatsanwaltschaft laufen diverse Ermittlungsverfahren gegen mehrere Tatverdächtige weiter. Außerdem wird gegen zwei Polizeibeamte wegen des Verdachts der Strafvereitelung im Amt sowie gegen acht Jugendamtsmitarbeiter und gegen vier Mitarbeiter anderer sozialer Organisationen wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht ermittelt.

Die juristische Aufarbeitung des Falls Lügde, sie hat gerade erst begonnen.

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