Lügde-Opfer vor Gericht:"Ein Kind ist immer mehr als das, was ihm angetan wurde"

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Im Lügde-Prozess am Landgericht Detmold stehen zwei Männer wegen hundertfachen sexuellen Missbrauchs von Mädchen und Jungen vor Gericht. (Foto: dpa)

Im Lügde-Prozess werden zum letzten Mal Kinder befragt. Jörg Fegert ist einer der führenden deutschen Trauma-Experten. Er erklärt, warum mitunter von einer Therapie abgeraten wird - und welche Hilfe missbrauchte Kinder benötigen.

Interview von Jana Stegemann

Im Prozess um den massenhaften sexuellen Missbrauch auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde rückt das Urteil gegen die beiden Hauptangeklagten näher. Die Beweisaufnahme am Landgericht Detmold soll in dieser Woche abgeschlossen werden. Am heutigen Donnerstag befragt die Vorsitzende Richterin zum letzten Mal Kinder, denen auf dem Campingplatz sexuelle Gewalt angetan wurde. Weil die beiden Angeklagten Andreas V. und Mario S. beim Prozessauftakt nahezu alle Taten eingeräumt hatten, hätte keines der 33 Lügde-Opfer vor Gericht aussagen müssen - einige wurden dennoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt. Die Kammer wollte sich selbst ein Bild machen, wie es den Kindern heute geht.

Der Ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm und Vizepräsident der Deutschen Traumastiftung e.V., Jörg M. Fegert, fordert im Interview eine kindgerechte Justiz und wirbt für einen anderen Umgang mit Opfern von sexuellem Missbrauch. 2018 erhielt Fegert für seine Arbeit das Bundesverdienstkreuz.

SZ: Herr Fegert, was brauchen Opfer wie die von Lügde am dringendsten?

Jörg Fegert: Als Gesellschaft sollten wir vorsichtig sein mit dem Begriff Opfer. Wir sollten kein eindimensionales Bild vermitteln. Sexueller Kindesmissbrauch wird häufig mit einer zerbrochenen Puppe oder einem zerstörten Teddybär illustriert.

Was ist daran falsch?

Diese Kinder sind nicht zerstört oder unheilbar kaputt. Die menschliche Psyche kann unglaublich stark sein und viele Menschen können sehr schlimme Dinge aushalten, wenn sie die richtige Unterstützung bekommen. Wenn Betroffene selbst sagen, sie haben lebenslang darunter gelitten oder der Missbrauch habe ihr Leben zerstört, dann muss man das akzeptieren. Unser Ziel als Therapeuten ist aber: Trotz schlimmer Taten, die wir nicht ungeschehen machen können, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, der Seele beim Weiterleben helfen, Dazugehören in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Eine Frage, die trotzdem schnell kommt in solchen Fällen: Werden die Kinder denn jemals ein normales Leben führen können?

Wir sollten die Kinder nicht in eine Opferrolle drängen. Ein Kind ist immer mehr als das, was ihm angetan wurde. Man kann trotz Traumatisierung ein gutes Leben führen. Mir ist es wichtig zu sagen, dass fast ein Drittel der betroffenen Kinder auch zwei Jahre nach so belastenden Ereignissen keine behandlungsbedürftige Störung hat. Jeder Fall ist individuell. Wir dürfen nicht alle über einen Kamm scheren, aber diejenigen die Hilfe brauchen, müssen falls nötig ihr Leben lang Unterstützung bekommen.

Eltern der Opfer im Fall Lügde erzählten Reportern von SZ, WDR und NDR, dass die Strafverfolgungsbehörden ihnen damals von einer Therapie abrieten, weil dann die Glaubwürdigkeit der Aussagen ihrer Kinder vor Gericht angezweifelt werden könnte.

Ich als Arzt finde das unethisch. Es darf nicht primär um die Interessen der Strafjustiz gehen. Wenn ein Kind eine behandlungsbedürftige Störung hat, dann gehen Kindeswohl und Therapie vor. Sie lassen Unfallopfer ja auch nicht mit gebrochenem Bein liegen, bis der Strafprozess beendet ist.

"Diese Kinder sind nicht zerstört oder unheilbar kaputt", sagt Jörg M. Fegert und warnt davor, Kinder in eine Opferrolle zu drängen. (Foto: privat)

Sie glauben also nicht, dass die Aussagen der Kinder verfälscht werden, wenn sie schon vor dem Prozess eine Therapie beginnen?

Das kann ich nicht ausschließen - wir haben hierzu wenig Forschung. Die Frage muss aber sein: Ist das öffentliche Interesse an Strafverfolgung wichtiger als das Wohl eines Kindes, welches an Schlafstörungen, Ängsten oder anderen Symptomen leidet?

In der Schweiz ist es ein Grundsatz, dass Kinder nur einmal vernommen werden dürfen. Die betroffenen Mädchen und Jungen im Fall Lügde wurden teilweise bis zu viermal von der Polizei vernommen, auch weil Aussagen nicht auf Video aufgezeichnet wurden. Auch die Richterin hat einige Opfer im Gerichtssaal erneut befragt, obwohl die beiden Hauptangeklagten geständig sind, um sich ein eigenes Bild von den Folgen der Taten zu machen.

Es kann belastend sein, dass die Kinder wieder und wieder berichten müssen, was sie erlebt haben. Je häufiger ich Kinder befrage, desto größer ist auch das Risiko, dass sich Aussagen verändern. Und unterschwellig suggeriere ich den Kindern dadurch auch: Ich glaube dir nicht, was du erzählst. Wenn man eine Geschichte fünfmal erzählen muss, fragt man sich natürlich irgendwann: Was stimmt an meiner Erzählung nicht, dass immer wieder nachgefragt wird?

Bekommen missbrauchte Kinder in Deutschland ausreichend staatliche Unterstützung?

Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass frühzeitige Hilfe entscheidend ist. Das Geschehene muss anerkannt werden und Betroffene schnell psychosoziale Unterstützung bekommen. Nordrhein-Westfalen ist auf diesem Gebiet einer der Vorreiter in der Bundesrepublik, weil es hier schon sehr früh Trauma-Ambulanzen gab. Erst für Erwachsene, dann auch speziell für Kinder. Deshalb ist es für mich völlig unverständlich, dass der Regierungsentwurf zur Reform des Sozialen Entschädigungsrechts, mit dem sich das Kabinett im vergangenen Juni befasst hat, keine Regelung zu spezifischen Trauma-Ambulanzen für Kinder- und Jugendliche enthält. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Die Mitbehandlung und Information unterstützender Beziehungspersonen ist hier essenziell. Man kann doch nicht über einen Fall wie in Lügde entsetzt sein, aber nicht gleiche Verhältnisse bei der Versorgung traumatisierter Kinder durch eine klare gesetzliche Regelung bundesweit durchsetzen.

Wird Kinderschutz in Deutschland vernachlässigt?

Ja, ich denke schon. Die Vereinten Nationen haben eine Nachhaltigkeitsstrategie bis 2030 beschlossen, zu den Zielen darin gehört auch, gewaltfreies Aufwachsen zu sichern. Um zu messen, ob das Ziel in Bezug auf sexuellen Missbrauch erreicht wurde, müsste die Generation zwischen 18 und 29 Jahren regelmäßig befragt werden. Das wird in Deutschland leider nicht systematisch gemacht. Der Indikatorenbericht zur deutschen Nachhaltigkeitsstrategie berichtet über die Zahl der Menschen, die durch Feuerwaffen sterben - da sehen wir deutlich besser aus als andere Staaten - aber nicht über die hohe Zahl von Menschen in unserem Land, die in ihrer Kindheit Missbrauch erlebt haben.

Dann hat Sie der Fall Lügde auch nicht überrascht?

Die systematisch organisierte Kriminalität und dass da auf den Campingplatz in diese seltsame Situation ein Pflegekind hineingegeben wurde, finde ich schon überraschend. Die generelle Häufigkeit der Fälle überrascht mich aber nicht. Zehn bis 14 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland sind als Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden. Das zeigt die große Herausforderung, vor der wir als Gesellschaft stehen.

Was muss passieren, dass sich endlich etwas ändert?

Bei monströsen Taten wie in Lügde und in Staufen schrecken wir immer auf. Die Skandalisierung dieser Einzelfälle hilft aber nicht. So behalten die Menschen eine emotionale Distanz und haben das Gefühl, dass so etwas nur extrem selten vorkommt. Der alltägliche Missbrauch ist der Skandal.

Ist die deutsche Justiz kinderfeindlich?

Sie ist auf jeden Fall vielfach nicht kindgerecht, wir haben im Sinne der Leitlinien des Europarats für child-friendly justice noch einen weiten Weg vor uns. Es gibt vereinzelt Leuchtturmprojekte, zum Beispiel in München, wo man versucht, Kinder nur einmal zu vernehmen. Dann gibt es in Leipzig das erste Kinderhaus nach skandinavischem Vorbild ("Barnahus"). Dort wird versucht, Hilfe und Strafverfolgung zusammenzubringen und dadurch alle Experten um das Kind zu versammeln, so dass die einmalige Videovernehmung vor Gericht und für die Therapie genutzt werden kann - eine Idee, für die sich die schwedische Königin Silvia sehr engagiert, die Anfang September in Heidelberg die nächste dieser Einrichtungen eröffnen wird. Das sind Ansätze, aber keine flächendeckende Lösung.

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