Mainz:Studie: Sexuelle Gewalt im Bistum Mainz größer als gedacht

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Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz. (Foto: Andreas Arnold/dpa/Archivbild)

Das Ausmaß sexueller Gewalt im Bistum Mainz ist laut einer Studie weitaus größer als bislang gedacht. Nach persönlichen Kontakten und intensiver Aktenprüfung...

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Mainz (dpa) - Das Ausmaß sexueller Gewalt im Bistum Mainz ist laut einer Studie weitaus größer als bislang gedacht. Nach persönlichen Kontakten und intensiver Aktenprüfung geht der mit der Untersuchung beauftragte Rechtsanwalt Ulrich Weber „Stand heute von 273 Beschuldigten und 422 Betroffenen aus“. Diese in einem am Mittwoch in einem Zwischenbericht veröffentlichte Zahl ist weitaus höher als das Ergebnis der enger gefassten sogenannten MHG-Studie aus dem Jahr 2018 zur sexuellen Gewalt in der katholischen Kirche, die für das Bistum Mainz 53 Täter und 169 Opfer ermittelt hatte.

Der vom Bistum beauftragte unabhängige Rechtsanwalt aus Regensburg hob hervor, dass in der neuen Studie mit dem Titel „Erfahren.Verstehen.Vorsorgen“ der Kreis der Beschuldigten, Betroffenen und der Vorfälle weiter gefasst sei. Der Abschlussbericht der Untersuchung, die die Zeit von 1945 bis 2019 umfasst, soll voraussichtlich Anfang 2022 vorgelegt werden.

Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, der seit 2017 im Amt ist, zeigte sich erschüttert: Der Zwischenbericht helfe dabei, „in einen schrecklichen Abgrund im Bistum Mainz zu blicken“. Weber und Kohlgraf riefen alle, die zur Aufklärung der Vorfälle beitragen können - insbesondere Betroffene, Angehörige, Freunde und Mitarbeiter des Bistums - dazu auf, sich mit dem Rechtsanwalt in Verbindung zu setzen.

Während sich die Studie von 2018 auf Kleriker und deren Gewalt gegenüber Minderjährigen beschränkt habe, sei die aktuelle EVV-Studie weiter gefasst und beziehe sexualisierte Gewalt, sonstige sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen auch gegen erwachsene Männer und Frauen ein, erklärte Weber. Bei den Beschuldigten geht es neben Klerikern auch um Laien, kirchliche Angestellte oder Gruppenleiter. Der Jurist hob hervor, dass er nicht von Tätern und Opfern, sondern von Beschuldigten und Betroffenen rede, da es sich noch um eine laufende Untersuchung handele.

„Die Schilderungen sexueller Gewalt erstrecken sich von der Ausnutzung der besonderen Schutz- und Vertrauenssituation der Beichte eines Erwachsenen für verbale sexuelle Belästigung bis hin zum schweren sexuellen Missbrauch eines Vorschulkindes“, berichtete Weber. Die Fälle hätten sich sowohl innerhalb kirchlicher Räumlichkeiten, in Institutionen unter kirchlicher Verantwortung wie etwa Internaten, auf kirchlich organisierten Unternehmungen wie Fahrten nach Rom oder Assisi und in familiären beziehungsweise privaten Umgebungen von Betroffenen und deren Umfeld abgespielt.

Bereits heute lasse sich mit Blick auf die zentrale Fragestellung der Studie zum Umgang mit Vorfällen sexualisierter Gewalt ein Fehlverhalten ausmachen, erklärte Weber. In der Vergangenheit sei in der Bistumsleitung auf einschlägige Meldungen oftmals nicht angemessen reagiert worden. Es habe keine funktionierenden Kontrollmechanismen gegen den weiteren Einsatz von Klerikern trotz Kenntnis früherer Taten gegeben.

Eine häufige Reaktion auf Missbrauchsfälle sei einzig die Versetzung in eine andere Pfarrei gewesen. Selbst schwere Missbrauchsfälle hätten lediglich zu geringen Sanktionen seitens der Bistumsleitung geführt. Bei Bistumswechsel habe es vielfach keine Informationen über Vorfälle gegeben. Schweigegebote gegenüber Opfern, Meldern und Beschuldigten sowie „gezielte Aktenführung“ hätten zu einer systematischen Verschleierung beigetragen. Der Anwalt nannte in diesem Zusammenhang namentlich Kohlgrafs Vorgänger, die beiden Kardinäle Hermann Volk und Karl Lehmann. „Mich wundert es nicht, dass auch bei den großen Namen solche Themen im Raum stehen“, sagte Kohlgraf dazu.

Fehlverhalten habe es aber nicht nur bei der Bistumsleitung gegeben, berichtete Weber. In den Pfarrgemeinden seien „klare Indizien und Kenntnisse durch Mitarbeiter vor Ort negiert, bagatellisiert und/oder für sich behalten“ worden. Melder und Betroffene seien - teils sogar durch Anwendung körperlicher Gewalt - unter Druck gesetzt, diskreditiert und isoliert worden.

„Wie kann es sein, dass das Umfeld von Betroffenen trotz klarer Indizien für eine Täterschaft insbesondere Priestern ein unerschütterliches Vertrauen entgegenbrachte?“, sagte Weber. „Wie kann es sein, dass verantwortliche Stellen nicht informiert wurden, obwohl pädophile Neigungen eines Beschuldigten bereits Stadtgespräch war?“ Weber listete noch mehr als ein Dutzend ähnlicher Fragen auf, die er jeweils einleitete mit: „Wie kann es sein, dass...?“

Weber, der von zwei Mitarbeitern unterstützt wird, hatte nach eigenen Angaben Kontakt zu 50 Betroffenen und 75 „Wissensträgern“ wie Angehörigen und Beschäftigten des Bistums. Er habe zudem in Dokumentensammlungen - „auch in Geheimarchiven“-, Nachlässen und Akten geforscht. Laufende staatliche Ermittlungsverfahren seien ihm in diesem Zusammenhang nicht bekannt. Der Rechtsanwalt und sein Team waren für die Aufklärung und wissenschaftlichen Aufbereitung des 2017 vorgelegten Abschlussberichts über körperliche und sexuelle Gewalt bei den Regensburger Domspatzen verantwortlich.

Kohlgraf erklärte, Weber arbeite seit Beginn er Studie im Juni 2019 ohne jegliche Einflussnahme des Bistums. „Wir wollen Transparenz schaffen und gerade die systemischen Fragen verstehen, die in der Kirche dazu beitragen, dass sexuelle Gewalt nicht verhindert oder sogar befördert wird“, erklärte er. „Wir werden uns der Frage stellen, was solches Fehlverhalten für das Leben der Kirche bedeutet, für unsere Präventionsarbeit, aber auch für die historische Einordnung und Erinnerung an Menschen, die früher im Bistum gearbeitet und Verantwortung getragen haben.“

Das Bistum Mainz liegt zu etwa zwei Dritteln auf hessischem und zu einem Drittel auf rheinland-pfälzischem Gebiet und zählte zuletzt gut 700 000 Kirchenmitglieder.

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