Familien in Deutschland:Mehr vernachlässigte und misshandelte Kinder als je zuvor

Lesezeit: 2 min

Kinder in Familien mit einem schwer erkrankten oder verstorbenen Elternteil brauchen oft Hilfe. (Foto: Imago)

In Deutschland steigen die Zahlen der Kindeswohlgefährdung, mehr als 62 000 Fälle wurden im vergangenen Jahr aktenkundig. Wie sich die Zunahme erklären lässt - und warum der Kinderschutzbund die Zahlen nicht nur negativ sieht.

Von Kerstin Lottritz

Noch nie haben die Jugendämter in Deutschland eine so hohe Anzahl von Kindeswohlgefährdungen gezählt wie im vergangenen Jahr. Fast 62 300 Kinder und Jugendliche, und damit 2300 mehr als im Vorjahr, wurden vernachlässigt oder waren psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt, teilte das Statistische Bundesamt am Mittwoch mit. In weiteren 68 900 Fällen lag nach Einschätzung der Behörden zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein erzieherischer Hilfebedarf vor. Der abermalige Anstieg an Kindeswohlgefährdungen entspricht der langfristigen Entwicklung: Seit 2012 sind in den vergangenen zehn Jahren die Fälle von Kindeswohlgefährdungen um 63 Prozent immer weiter angestiegen, besonders stark war das seit 2017 bis zum ersten Pandemie-Jahr zu beobachten.

Ursache für die zunehmende Zahl an Fällen sei zum einen eine höhere Sensibilität für die Thematik und eine bessere Erreichbarkeit der Jugendämter, sagt Professor Heinz Kindler, Fachbereichsleiter Familienhilfe und Kinderschutz beim Deutschen Jugendinstitut. "Gleichzeitig leidet aber auch die Erziehungsfähigkeit, weil mehr Eltern überfordert sind." Gründe dafür seien etwa schwierigere Verhaltensweisen von Kindern oder stressige Lebensumstände wie Trennungen oder Überschuldungen. Beispielsweise nähmen seit der Pandemie psychische Erkrankungen bei Kindern zu, die etwa mit dem Druck in der Schule nicht zurechtkommen. Auf deren Verhaltensweisen würden dann manche Eltern nicht angemessen reagieren können. Vernachlässigungen, Misshandlungen und sexuelle Gewalt gebe es in allen gesellschaftlichen Schichten, sie würden aber eher bei Menschen in angespannten sozio-ökonomischen Lebenslagen zunehmen.

In den meisten Fällen (59 Prozent) von Kindeswohlgefährdung stellten die Jugendämter Vernachlässigung fest, in 35 Prozent ging es um psychische Misshandlungen. Indizien für körperliche Misshandlungen fanden die Jugendamtsmitarbeiter in 27 Prozent der Fälle und in fünf Prozent Anzeichen für sexualisierte Gewalt. Auch die Hinweise auf mögliche Gefährdungen sind gestiegen: Insgesamt mehr als 200 000 Verdachtsfälle haben die Jugendämter im vergangenen Jahr überprüft - die meisten kamen von der Polizei oder den Justizbehörden.

Lässt sich Gewalt schon vor der Geburt verhindern?

"Vernachlässigung ist ein in sich sehr vielgestaltiges Phänomen", sagt Kindler. Darunter fallen körperliche Vernachlässigung mit hygienisch unzumutbaren Bedingungen über emotionale Vernachlässigung, Vernachlässigung der Aufsicht bis hin zu nicht ausreichender Nahrung. "Die Statistik zeigt leider nicht, welche Formen der Vernachlässigung zunehmen." Für die Mitarbeiter von Jugendämtern sei es oft schwierig einzuschätzen, ob es sich lediglich um unterdurchschnittliche Fürsorge handele oder die Kinder bereits einer deutlichen Gefährdung ausgesetzt sind. Auch in Kindergärten und Schulen sieht Kindler Handlungsbedarf, Erzieherinnen und Lehrer noch mehr zu schulen: "Die Unsicherheit, ob man das jetzt melden soll oder nicht, ist groß."

Bei der Präventionsarbeit setzen einige Bundesländer bereits jetzt auf Projekte wie die sogenannten Babylotsen. Diese bieten schon vor der Geburt Hilfe und Unterstützung an, wenn sich in einem Screening etwa eine Überforderung in der Familie andeutet. Doch Prävention allein sei nicht ausreichend, um Kinder und Jugendliche besser vor Vernachlässigung und Gewalt zu schützen, sagt Kindler. Er fordert, Kinderarmut besser zu bekämpfen. "Wir wissen aus anderen Ländern, dass eine sinkende Kinderarmutsquote zu einer sinkenden Rate an Vernachlässigung führt." Zusätzlich müsse die Qualität von Hilfsangeboten weiterentwickelt werden. "Wir brauchen ein Modellprogramm, das der Praxis Vorlagen liefern kann." Kindler verweist auf das Selfcare-Programm aus den USA. Dabei werden Eltern zu Hause etwa in angemessener Kindererziehung geschult.

Der Kinderschutzbund sieht den Anstieg der Fälle von Kindeswohlgefährdung übrigens nicht nur negativ: Jeder Fall, der aufgedeckt werde, sei gut. Das Dunkelfeld, davon gehen die Experten aus, sei immer noch groß. Da sei es positiv, dass mehr Menschen genau hinschauen und Verdachtsfälle melden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusInobhutnahme
:Tochter, 8, will weg von ihren Eltern

Vater, Mutter, zwei Kinder, ein gutbürgerliches Leben - doch plötzlich kommt eine bedenkliche Spirale in Gang. Ein Beispiel, das zeigt, wie Familien plötzlich abrutschen können.

Von Ulrike Heidenreich

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: