Wenn man als Jugendlicher Zeuge wird, wie der Vater im Wohnzimmer zu Lady Gaga tanzt oder die große Schwester ostentativ mit dem Freund knutscht, dann fällt das alles unter die Rubrik: "cringe". Cringe bezeichnet im Englischen die physische Reaktion auf eine unerträglich peinliche Situation. So peinlich, dass man sich regelrecht zusammenkrümmt vor lauter Unbehagen. Mittlerweile bedeutet der Begriff das Gleiche im Deutschen.
"Cringe" hat es nun hierzulande zum "Jugendwort des Jahres" gebracht. In einer Online-Abstimmung des Langenscheidt-Verlags, die seit dem vergangenen Juni lief, hat sich der Begriff mit 42 Prozent der insgesamt 1,2 Millionen abgegebenen Stimmen durchgesetzt. Der Verlag kürt bereits seit 2008 jährlich ein Wort zum Jugendbegriff des Jahres. Doch erst seit 2020 können die Jugendlichen selbst abstimmen. Davor waren es paradoxerweise Erwachsene, die entschieden, was bei ihren Kindern gerade sprachlich aktuell war. Seit dem vergangenen Jahr stellt der Verlag lediglich sicher, dass es sich nicht um diskriminierende oder sexistische Wörter handelt.
Nun ist es nicht so, als gäbe es für genau das gleiche Bedeutungsfeld nicht auch schon ein treffendes deutsches Wort. Der Begriff "fremdschämen" ist schon länger im Gebrauch und sogar im Duden aufgeführt. Er deckt letztlich genau dasselbe Bedeutungsfeld ab wie "cringe", nämlich das Gefühl, stellvertretend für jemanden, der sich seiner eigentlichen Peinlichkeit nicht bewusst ist, tiefe Scham zu empfinden.
Platz zwei für "sus"
Man mag beklagen, dass hier wieder mal ein Anglizismus ein höchst deskriptives deutsches Wort verdrängt hat. Aber "fremdschämen" ist ja nicht weg. Und "cringe" hat, wie das im Englischen so oft der Fall ist, den Vorteil der Einsilbigkeit. Bis zum Schluss im Rennen waren übrigens noch zwei andere kurze Anglizismen. Am Ende landete "sus" (kurz für "suspicious", also: verdächtig) auf Platz zwei, gefolgt von "sheesh" (einer Verballhornung von "Jesus"), einem Ausdruck des Erstaunens.
Andere englische Wörter, die dasselbe bedeuten wie "cringe", werden sich dagegen kaum durchsetzen: "toe-curling" zum Beispiel, also eine Peinlichkeit, die man so heftig verspürt, dass sich die Zehen verkrampfen, hat genauso viele Silben wie "fremdschämen" und ist irgendwie auch zu kompliziert.