Frankreich:Weltberühmte Hinkelsteine, zerstört für einen Baumarkt? Nicht ganz

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Keine Sorge, die berühmten Menhire von Carnac stehen noch. Es könnte nur sein, dass ein paar bisher unentdeckte Exemplare einem Baumarkt weichen mussten. (Foto: Elena Elisseeva/Imago/Design Pics)

In Frankreich machen Berichte die Runde, die klingen, als wären bedeutsame Teile der Steinreihen von Carnac von Bulldozern plattgemacht worden, der Bürgermeister erhält Morddrohungen deswegen. Aber so einfach ist das nicht.

Von Thomas Kirchner, Paris

Am 2. Juni veröffentlichte Christian Obeltz, ein Archäologe und Aktivist aus dem südbretonischen Carnac, einen Blogeintrag auf der Website der Naturerbe-Bewegung Sites et monuments. Er zählt darin "brutale Bauarbeiten" an geschichtlich wertvollen Stellen seines Heimatortes auf. Gleich am Anfang bezichtigt er die Stadtverwaltung einer schier unglaublichen Verfehlung: Sie habe es zugelassen, dass für den Bau eines Baumarkts eine uralte Ansammlung von Menhiren plattgemacht wurde. 39 dieser kultischen Steine, 80 bis 100 Zentimeter groß und aus der Zeit zwischen 5480 und 5320 vor Christus, seien einem "Mr. Bricolage" zum Opfer gefallen, so der Name der Handelskette.

Die Regionalzeitung Ouest-France berichtete, kurz darauf die nationalen Medien. Das Internet kochte. Eine Bastelbude! Für einen nationalen Schatz! Die Steinreihen von Carnac werden zusammen mit dem englischen Stonehenge zu den bedeutendsten europäischen Fundstellen gezählt; die Gesamtanlage steht kurz davor, als Weltkulturerbe akzeptiert zu werden. Die Gemeinde Carnac wirbt mit dem "weltweit größten megalithischen Komplex dieser Art", etwa 3000 Menhire sind über eine fast vier Kilometer lange Strecke aufgereiht.

Im Zentrum der Zerstörungsberichte: Carnacs Bürgermeister Olivier Lepick. Wie konnte er nur vor knapp einem Jahr die Baugenehmigung erteilen? Wo doch, wie Obeltz betonte, die betroffene Stelle seit 2015 in einem Verzeichnis der zuständigen regionalen Kulturbehörde DRAC aufgenommen war, online einsehbar. In ebenjenem Jahr hatte die Stadt einen ersten Bauantrag noch abgelehnt, unter Verweis auf Einwände eines Forschungsinstituts.

Der Bürgermeister und der "Tsunami des Hasses"

Über den parteilosen Amtmann Lepick erging, nach seinen Worten, innerhalb von Stunden ein "Tsunami des Hasses", mit Drohungen und Verwünschungen aus ganz Frankreich. Rechtsextreme Politiker witterten eine Gelegenheit, die mutmaßliche Geschichtsvergessenheit der Konkurrenz zu geißeln. Eric Zemmour etwa, Präsidentschaftskandidat im vergangenen Jahr, raste sofort zur Baustelle, um ein Tiktok-Video aufzunehmen. "Ein bisschen ist es doch Zeichen unserer Zeit", sagt er vor dem Zaun, Verzweiflung mimend: "Man zerstört die Vergangenheit und darüber bastelt man dann." Auch die führende grüne Politikerin Sandrine Rousseau meldete sich gleich: "Vieltausendjährige Menhire werden für einen Laden zerstört. Lässt sich unsere Verrücktheit noch besser illustrieren?" Der Verdacht, der Bürgermeister habe sich kaufen lassen, gerann zur allgemeinen Überzeugung.

Das Problem an der Geschichte: Sie stimmt wohl nicht ganz. Zumindest nicht in der drastischen Darstellung mancher französischer und internationaler Medien, vom Netz zu schweigen. Das kam nun nach und nach ans Licht. Der Bürgermeister weist jede Schuld von sich. Er selbst habe nicht gewusst, dass die Stätte in dem Verzeichnis stand. Sicher, es sei ein "administrativer Fehler" passiert, es hätte neue Grabungen geben müssen. Die Stadt aber habe sich an alle Regeln gehalten, der Umgang mit solchen Fällen sei sein "tägliches Brot". Im Übrigen seien nur vier oberirdische Steine möglicherweise erhaltenswert gewesen, nicht 39. Archäologen, die nicht ihren Namen nennen wollen, bestritten Letzteres gegenüber Ouest-France.

Die Kulturbehörde DRAC verweist auf die Grabungen 2014/15 und erklärt, es sei "nicht gesichert", dass die Stelle "archäologischen Wert" habe. Ob das stimmt, lässt sich nicht mehr eruieren, der Ort ist ja zerstört. Der Präfekt der Region bestätigt zwar die "Rechtmäßigkeit" der Baugenehmigung. Was er aber nicht sagt: dass vor deren Erteilung erneut der regionale Archäologiedienst hätte eingeschaltet werden müssen. Er untersteht der DRAC. "Ein Zweifel wird bleiben", sagt deren Direktorin.

Die betroffene Stelle liegt in einem Gewerbegebiet nahe einer Mülldeponie

Sicher ist, dass manche Medien schwer übertrieben. Etwa, indem RTL, BFMTV, 20 Minutes, Le Point und viele andere ihre Storys mit Fotos der berühmten Steinreihen versahen, denen sie ein Baumarkt-Bild gegenüberstellten. Das wird der unspektakulären Realität der betroffenen Stelle nicht im Mindesten gerecht. Sie liegt in einem Gewerbegebiet, nahe einer Tankstelle und einer Mülldeponie, und sieht aus wie eine alte Trockenmauer mit zwei Grenzsteinen, wie zum Beispiel auf Fotos in Ouest-France zu sehen ist.

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Den Ablauf im Detail wird nun die Staatsanwaltschaft beleuchten. Sie reagiert auf eine Klage der bretonischen Kultur-Organisation Koun Breizh und Sites et monuments. Die beiden Vereinigungen erklärten, sie wollten wissen, wo der Fehler liege, der zu der Zerstörung der Menhire führte. Sie beschuldigten aber niemanden.

Bürgermeister Lepick jedenfalls bekam Mordankündigungen, er und sein Haus wurden unter Polizeischutz gestellt, seine Frau empfing Drohungen, seine Kinder wurden in sozialen Medien beschimpft. Eine Tochter habe die Kommunikation komplett eingestellt, erzählte Lepick Le Monde. Die Geschichte habe nun mal alle Ingredienzen für eine heftige Aufwallung. "Ich hatte die Mona Lisa zerstört."

Drohungen gegen lokale Amtspersonen sind in Frankreich seit Längerem ein Thema. Mitte Mai entschloss sich Yannick Morez, Bürgermeister von Saint-Brevin-les-Pins an der Loire-Mündung, zu einem vielbeachteten Rücktritt. Wegen eines Empfangszentrums für Asylbewerber in der Kommune hatten rechtsextreme Politiker monatelang Proteste in dem Ort organisiert, es kam zu einem nächtlichen Brandanschlag auf sein Haus. Aus "persönlichen Gründen" und "wegen mangelhafter Unterstützung durch den Staat" müsse er sein Amt leider aufgeben, sagte Morez. Lepick erhielt Hilfe von oben. Er werde nicht zurücktreten, weil er ja nichts falsch gemacht habe, sagt er. Trotzdem frage er sich, wie lange er den Job noch machen solle, der nicht sein Hauptberuf ist. Er erhalte "1018 Euro" Entschädigung im Monat. Und dafür das Haus anzünden lassen?

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