Wandern und Bergsteigen:Dieser Weg wird kein leichter sein

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"Schwierig ist hier nichts" - das liegt natürlich immer im Auge des Bergwanderers. Sonnenuntergang auf dem Herzogstand. (Foto: Jessy Asmus)

107 Schüler und Lehrer aus Ludwigshafen verzweifeln an Österreichs Bergen und müssen mit Helikoptern gerettet werden. Die Route haben sie aus dem Internet. Sind Online-Tipps also unseriös? Oder die Nutzer nur zu naiv?

Von Marcel Laskus

Was soll man von einer Bergtour halten, die den "schönsten und wahrscheinlich einsamsten Aufstieg" hat, die "Ausblicke auf die umliegenden Gipfel" bietet und doch nur eine "gemütliche Abendrunde" sein will? Von so einer Tour hält man sehr gern sehr viel. Das dachte auch ein Mensch, der sich im Internet Andy84 nennt. Er hat diese Route zum 1794 Meter hohen Heuberg im österreichischen Kleinwalsertal erwandert und seine Eindrücke mit der Öffentlichkeit geteilt. Auf seinen Bericht auf dem Portal Hikr.org stießen irgendwann auch acht Lehrerinnen und Lehrer aus Ludwigshafen. Am Dienstag schnürten sie auf ihrer Klassenfahrt die Schuhe und machten sich gegen 15 Uhr mit ihren insgesamt 99 Schülerinnen und Schülern auf den Weg. Da konnten sie natürlich noch nicht ahnen, dass ihr Rückweg später im Helikopter der Bergrettung erfolgen würde.

Vielleicht kamen der Gruppe nach den ersten Schritten in Turnschuhen wieder die anderen Merkmale der Tour in den Sinn, die im Internet aufgelistet waren. Von einer "Überschreitung" ist da ja auch die Rede, von einer "Kletterausrüstung", die man benötigt. Und vielleicht machten sie sich Gedanken, ob sie diesen Satz richtig interpretiert hatten: "Der Kamm wird zwar an 2-3 Stellen etwas schmaler und bei 2 kleinen Aufschwüngen muss man evtl. auch kurz die Hände aus der Hosentasche nehmen, aber schwierig ist hier nichts."

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Bergwacht und Polizei schildern den Ablauf später so: Der Weg sei nass gewesen von den vorangegangen Regenfällen, und so war die Tour für die Gruppe der zwölf- bis 14-jährigen Kinder und die Erwachsenen dann doch weniger gemütlich als prophezeit. Laut der örtlichen Polizei erfordert der Pfad "Schwindelfreiheit, Trittsicherheit sowie Erfahrung im alpinen Gelände".

Bergnot im Kleinwalsertal: Bergwacht und Polizei mussten am Donnerstag 99 Schüler und acht Lehrer aus misslicher Lage retten. (Foto: --/dpa)

Die Gruppe drehte um. Doch die Rückkehr gelang nicht, weil zwei Kinder stürzten und sich leicht verletzten. Andere Kinder gerieten in Panik. Um 18.11 Uhr ging bei der Bergwacht der Notruf ein, denn die Gruppe wollte nicht mehr weiter. In den folgenden Stunden befreiten ein Helikopter der Bergrettung und ein Helikopter der Polizei die Kinder nun in Dreiergruppen aus der verzwickten Lage. Erst um 21.30 Uhr war der Einsatz geschafft. Auf der Website der Schule verkündet der Direktor der Schule später: "Nach dem ersten Schreck des gestrigen Abends sind wir sehr froh, dass es allen soweit gut geht."

Dieser gescheiterte Wandertag könnte mit der Moral von der Geschicht' zu Ende erzählt sein, die da lautet: Die Schule bekommt laut Polizei die Kosten der Bergung in Höhe von "mehreren Tausend Euro" in Rechnung gestellt. Doch zeigt sich schon an den aufgebrachten Reaktionen, dass hier etwas liegt, was über den Einzelfall hinausweist. Im Forum von Hikr schreibt einer: "Verantwortungslos wer sich da blind auf Berichte verlässt." Der Bürgermeister der betroffenen Gemeinde Mittelberg stellte wiederum die Frage, ob es "verantwortungslose Interneteinträge" überhaupt braucht, wenn dann so was dabei rauskommt.

Sind die Portale also schuld daran, wenn Laien sich von vollmundig beschriebenen Touren locken lassen? Oder sind die Wanderer einfach naiv, weil sie wie die Lemminge den Routenvorschlägen unvorbereitet folgen?

Die Zahl der Bergunfälle wächst

Fest steht, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Bergsteigen und anspruchsvolle Wanderungen nur etwas für Menschen mit sehnigen Armen und einem Körperfettanteil von maximal 15 Prozent waren. Es braucht kein teures Kartenmaterial mehr und keine mühsame Recherche, weil kostenlose Websites eine scheinbar endlose Zahl von Touren anbieten und dem Gelegenheitswanderer die Arbeit abnehmen. 15 Millionen Kundinnen und Kunden zählt allein die Touren-App Komoot im deutschsprachigen Raum.

Eine schöne Entwicklung ist das, weil Vielfalt guttut. Nur führt das Gedränge am Berg eben auch zu Problemen. Anfang der Nullerjahre kam es in der Schweiz laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung noch zu 17 700 Unfällen im Jahr, mittlerweile ist die Zahl doppelt so hoch. Im Oktober 2018 machten sich zwei 14-Jährige auf den Weg zur Zugspitze. Sie sollen sich auf eine App verlassen haben, die einen Weg von drei Stunden über das Höllental in Aussicht stellte. Halb so lang wie viele Bergführer. Am Ende mussten sie von Helikoptern geholt werden. Vor drei Monaten erst stürzten an der Hohen Asten bei Flintsbach im Kreis Rosenheim drei Menschen in die Tiefe. Die Wanderer waren gut ausgerüstet, aber eine App soll sie von der ursprünglichen Route weggelenkt haben.

Stanislav Chachkov, der Chef von Hikr.org, beteuert auf Anfrage, dass es in den 15 Jahren, in denen die Seite existiert, nie einen Vorfall wie den jetzigen gegeben habe. "Die Strecke ist markiert als eine Route, die man nicht ohne Erfahrung und richtiges Equipment machen sollte", sagt er. Was er damit meint: Die Route ist als "T4" eingestuft, das ist der drittschwerste von insgesamt sechs Schwierigkeitsgraden in der SAC-Wanderskala, die unter Bergwanderern bekannt ist. "Alpine Erfahrung" sei bei einer T4-Wanderung nötig, so steht es in der Beschreibung, die auf Hikr.org verlinkt ist. Außerdem könne "bei Wettersturz ein Rückzug schwierig werden".

Braucht es Warnhinweise für schwierige Wanderungen?

Schon möglich, dass die Lehrerinnen und Lehrer die T4-Einstufung übersehen oder nicht ausreichend ernst genommen haben. Auf Anfrage war der Direktor der Schule nicht erreichbar. Unabhängig davon führt es zur Frage, wie sichtbar Warnhinweise bei Online-Routen sein müssen und ob es - ähnlich wie bei Spielzeug für Kleinkinder - auch für Wanderrouten rote und fett gedruckte Warnungen braucht, die in einfacher Sprache klarmachen: Das hier könnte tatsächlich anstrengend, rutschig und bei mangelnder Technik gefährlich werden. Gleichzeitig liegt es in der Natur eines jeden Erfahrungsberichts, dass dieser auf unterschiedliche Betrachter auch unterschiedlich wirken kann.

Klaus Drexel ist Sprecher der Bergrettung in Vorarlberg, die die 107 Deutschen geborgen hat. Er blickt skeptisch auf Routen aus dem Internet: "Für den einen kann die Strecke ein Kinderspiel sein, für den anderen ist sie eine große Hürde." In letzter Zeit würden sie es bei der Bergrettung immer häufiger mit Wanderern und Bergsteigern zu tun haben, die sich verirrt haben, weil sie sich auf eine Online-Route verlassen haben. Wobei er ja selbst vorab im Internet recherchiert, wenn er sich auf die Suche nach einer Tour macht. Wirklich verlässlich findet Drexel allerdings nur "seriöses Kartenmaterial und Fachliteratur", wie er sagt. Gute Ansprechpartner können außerdem örtliche Tourismus- und Bergführerbüros sein.

Man kann das kritisch sehen, und doch gehört es eben zur Ära der Creator Economy, dass jeder Mensch mit Internetzugang selbst fleißig Dinge herstellt. Videos bei Youtube, Bilder bei Instagram, und nun seit einiger Zeit eben auch Touren bei Portalen wie Komoot oder Hikr. Manchmal interessieren sich dann tatsächlich wildfremde Menschen für die Schritte, die man einmal zurückgelegt hat. Die Route von Andy84 hat bis heute mehr als 60 000 Aufrufe.

Von #neverstopexploring bis #puremountain

Wenn man sich trotzdem auf das Internet verlassen will, sollte man zumindest zweigleisig fahren, rät Stefan Winter. Er ist Ressortleiter Sportentwicklung beim Deutschen Alpenverein (DAV) und empfiehlt: "Wenn man sich im Internet eine Tour raussucht, sollte man die Tour noch mal auf einer zweiten Seite suchen." Nicht selten komme es vor, dass eine Route auf der einen Seite als "mittelschwer" und auf einer anderen als "einfach" eingestuft wird. Den Querschnitt der Eindrücke müsse man miteinander abgleichen. "Dann wird es rund." Das Portal Hikr hält er im Übrigen für ein "qualitativ sehr gutes Portal". Dennoch findet er: Auf subjektive Wertungen einer Tour solle man ganz grundsätzlich wenig geben. Beim DAV-eigenen Portal habe man sich aus diesem Grund dafür entschieden, persönliche Meinungen komplett außen vor zu lassen - um keine falschen Erwartungen zu schüren, so Winter. "Wir zählen nur die Fakten auf."

Das größere Risiko sieht Winter bei einem anderen Phänomen des Internets: den sozialen Medien. "Im Unterschied zu Websites ist der Platz für Informationen bei Instagram- und Tiktok-Beiträgen viel knapper", sagt Winter. Für eine ausführliche Dokumentation der Strecke fehlt schlicht der Raum. Ein Blick auf die vielen Millionen Fotos, die unter Hashtags wie #neverstopexploring und #puremountain bei Instagram zu finden sind, zeigt traumhafte Sonnenaufgänge und endlos weite Aussichten in Täler. "Diese Bilder erfüllen Klischees und bedienen unrealistische Narrative, dass man auf diesem Gipfel eine tolle Aussicht hat und ganz alleine ist", sagt Winter.

So abgedroschen diese Klischees auch sein mögen, so sehr möchte man als Betrachterin oder Betrachter dann eben gern auch Teil dieses Klischees sein. Winter spricht von einer "Sogwirkung", die von solchen Beiträgen ausgeht. Oft ist in den Beiträgen kaum mehr zu finden als die Information dazu, wo sich das Ziel befindet. Wie man dorthin kommt und welche Ausrüstung es braucht, das hängt immer mehr von den Routen ab, auf die Nachahmer bei ihrer Suche im Internet stoßen. Und auf die Bergrettung natürlich, die im Zweifel helfen muss.

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