Zweite Stammstrecke:Der Münchner Jahrhundert-Knopf

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Der Spatenstich ist eigentlich ein Knopfdruck. (Foto: Alessandra Schellnegger; Bearbeitung SZ)
  • Beim Spatenstich für die zweite S-Bahn-Stammstrecke überbieten sich die Festredner mit Lob - für das Projekt und dessen Finanziers.
  • Das Milliardenprojekt soll von 2026 an die Kapazitäten der chronisch überlasteten Hauptstrecke durch die Münchner Innenstadt fast verdoppeln.
  • Am Marienplatz treffen sich 50 Gegendemonstranten, die nicht viel Aufsehen erregen

Von Frank Müller und Andreas Schubert, München

Die erste Panne, den ersten kleinen Unfall, gibt es schon, bevor der Bau der Stammstrecke überhaupt startet. Im Festzelt auf dem Marienhof haben sich alle Ehrengäste bereits versammelt, Ministerpräsident Horst Seehofer, Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt, Oberbürgermeister Dieter Reiter, Bahn-Chef Richard Lutz und sein Vorstandskollege Ronald Pofalla - da drängt sich auch Alt-OB Christian Ude an den Stehtisch, an dem auch der andere große Alt-OB Hans-Jochen Vogel schon steht. Es kommt, wie es kommen muss: Ude rumpelt heran, Gläser fallen um, der erste Wassereinbruch.

Seehofer wischt mit der nonchalanten Geste eines Mannes, der schon vieles gesehen hat, mit Papierservietten herum. Wenig später steht dann der Bahnchef mit einem nassen Manuskript auf dem Podium. "Besser so rum als irgendwann mal Wasser auf der Baustelle", scherzt Lutz trocken.

Seehofer hat sich, wie so oft, auf einem kleinen Handzettel selbst einige Notizen gemacht. "Außergewöhnlich ist selten", steht ganz oben. Ausformuliert auf dem Podium hört sich das dann so an: "Außergewöhnlich ist auch in der Politik selten." Es gibt fünf Festredner, und alle pflegen eine Mischung aus Pathos und Erleichterung. "Ein historischer Tag", sagt Dobrindt. "Eine wirkliche Jahrhundertentscheidung", sagt Seehofer. "Einen echten Glückstag" nennt es Reiter. Am Ehrentisch haben sich die Tunnelpolitiker darauf verständigt, kurze und knackige Reden zu halten und lieber etwas wegzulassen. Am Ende jeder Rede gibt es dann in der kleinen Runde spielerisches Lob für die Schnelligkeit des jeweiligen Kollegen. Am längsten spricht Seehofer selbst.

Es gibt noch einen anderen interessanten Zweiklang bei der Veranstaltung. Auffallend häufig wird das gute Verhältnis von Stadt und Land betont, was keine Selbstverständlichkeit ist im langjährigen Dualismus zwischen rotem Rathaus und schwarzer Staatskanzlei. "Ein Juwel", sagt Seehofer über München, "unsere geliebte Landeshauptstadt". Ein Meilenstein sei die Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten gewesen, meint Dobrindt. Und Reiter bedankt sich im Gegenzug gleich mehrmals für das Engagement von Freistaat, Bund und Bahn. Die Stadt selbst steuert zur Finanzierung nur einen kleinen Beitrag bei, der sei gleichwohl "wirklich nennenswert", lobt Seehofer (worauf Dobrindt in sich hineinmurmelt: "Naja, naja"). Doch gleichzeitig widerspricht Seehofer dem Eindruck, nun gehe es "nur noch um die Metropolregion". Der Ministerpräsident verspricht, "dass dieses doch aufwendige Verkehrsprojekt nicht dazu führen wird, dass irgendein anderes Verkehrsprojekt eingespart wird".

Der Marienhof bietet Großes auf, im Grunde ist der sonst oft tote Flecken Innenstadt zum ersten Mal seit geraumer Zeit richtig belebt. Zwei große Zelte und ein Schwung kleinerer Gastrobauten - all dies ist eingegrenzt von Baucontainern und -zäunen und manchem schweren Gerät. Es herrscht Trubel und am Ende doch fast so etwas wie Aufregung. Die Sicherheitsvorkehrungen sind eher entspannt, schon lange vor dem offiziellen Startschuss tummeln sich Anti-Stammstrecken-Demonstranten erst auf dem Marienplatz, also auf der anderen Seite des Rathauses, und dann auch auf dem Marienhof.

Zur Protestdemo haben sich etwa 50 Menschen versammelt. Die üblichen Parolen sind auf dem Marienplatz zu hören und zu lesen: "Südring statt Tunnelwahn" oder "Untenrum ist dumm, darum obenherum". Auch Bund Naturschutz und Grüne sind dabei, Markus Ganserer etwa, der verkehrspolitische Sprecher der Grünen im Landtag, und auch Claudia Stamm hält zumindest im Widerstand ihren alten Mitstreitern die Stange: Die bisherige Grünen-Abgeordnete hatte schon zuvor einige Scherze mit ihrem Namen getrieben. Sie sei ja nicht automatisch gegen eine Stamm-Strecke, twittert sie zunächst. Nun steht sie auf dem Marienplatz für ihre neue Partei "Zeit zu handeln". Ganz offenbar genießt sie die Möglichkeit, sich ohne Parteidisziplin einfach so hinzustellen und zu machen, was sie will.

Wie bestellt, sind auch ein Haufen Stuttgarter Fußballfans am Marienplatz unterwegs. Der VfB spielt an diesem Tag gegen die Sechziger. Ein Flyerverteiler der Linken fragt sie, wie es ihnen so geht mit dem dortigen Bahn-Großprojekt Stuttgart 21. "Wunderbar", sagt einer. "Wir mögen den Tunnel." Und die vielen anderen Passanten eilen einfach so vorbei, mehr an ihren Einkäufen interessiert als an den Transparenten.

Ein Spatenstich im Jahr 2017, zumal für so ein Riesenprojekt, ist natürlich nicht mit einer einfachen Schaufel zu machen. Nein, da muss schon ein tonnenschwerer Caterpillar her. Und weil halt so viele Kameras da sind, drücken sich gleich sieben Offizielle um den roten Knopf, der die Arbeiten in Gang setzt: Reiter, Seehofer, Herrmann, Pofalla, Bahnchef Lutz, Projektchef Markus Kretschmer und Bayerns Bahnchef Klaus-Dieter Josel. Weil's halt ein gar so historischer Tag ist, wollen sie alle mit aufs Bild. Vor der Absperrung stehen gut hundert Menschen, zwei davon sogar mit Pro-Stammstrecke-Plakaten (dahinter haben sich auch die Gegner eingeschlichen). Dann kommt ein kleiner Countdown, die Knopf-Drücker werden aktiv, der Caterpillar-Bagger setzt sich röhrend in Bewegung und schaufelt eine extra aufgehäufte Fuhre Schotter in einen Lastwagen.

Das war der Baubeginn, kurz und schmerzlos. Im kommenden Jahr wird an derselben Stelle ein riesiges Loch klaffen. Der Buzzer steht noch kurz da, eine Attrappe mit Bahn-Logo, mit nichts verbunden, völlig funktionslos. Bis ihn Kretschmer kurzerhand zur Seite räumt: Vielleicht wandert das Ding ja mal in ein DB-Museum.

Und im Hintergrund lebt Wirtschaftsministerin Ilse Aigner kurz den Traum aller Männer, klettert in den Bagger und bewegt die Schaufel einmal rauf und runter.

Die Festgäste bewirten dürfen die Innenstadtwirte, was sie vielleicht ein bisschen entschädigt für den Ärger, den sie in den nächsten Jahren haben werden. Im Zelt serviert Dallmayr Häppchen, Wein und Bier - die Feinkostfirma hatte übrigens vor nicht zu langer Zeit wegen der befürchteten Baustellen-Unbill noch gegen die Genehmigung der Stammstrecke geklagt.

Der Andrang zum Bürgerfest ist nicht riesig, was auch am kühlen Wetter liegen mag. Voll wird es im Zelt erst beim Auftritt der Wise Guys am Abend. Und die beste Stimmung, die kommt bei deren Anti-Bahn-Song auf.

© SZ vom 06.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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