Bildung für alle:"Wir sind als linke Spinner belächelt worden"

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Mann der ersten Stunde: Gerhard Feist ist seit 50 Jahren Zweiter Vorsitzender der Volkshochschule Wolfratshausen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Gerhard Feist ist seit 50 Jahren zweiter Vorsitzender der Volkshochschule Wolfratshausen. Seine Erinnerungen spiegeln ein Stück Zeitgeschichte. Was treibt den 83-Jährigen an?

Interview von Stephanie Schwaderer, Wolfratshausen

Genau 50 Jahre ist es her, dass die Volkshochschule Wolfratshausen ihr erstes Frühjahrsprogramm vorlegte. Sechs Monate zuvor hatten acht Leute einen Verein gegründet, um die Bevölkerung "zur Selbstbildung und zur Mitarbeit am demokratischen Staatsleben anzuregen" sowie "Kenntnisse für Leben und Beruf zu vermitteln", wie es in der Satzung heißt. Ein Mann der ersten Stunde ist Gerhard Feist. Der heute 83-Jährige wurde damals zum zweiten Vorsitzenden gewählt - und übt dieses Amt bis heute mit Leidenschaft aus.

SZ: Herr Feist, Sie sind seit 50 Jahren zweiter Vorsitzender der Volkshochschule Wolfratshausen, was ist das Wichtigste, das Sie in dieser Funktion gelernt haben?

Gerhard Feist: Dass sich die Zeiten ändern und man das Angebot anpassen muss.

Wie sah das erste Angebot aus?

Begonnen haben wir mit einer Handvoll Sprachkursen und einem Kochkurs. Die meisten Sprachkurse hat damals Theo Altmeier geleitet. Er war Dolmetscher bei der Böhme KG in Geretsried, hat sieben Sprachen schriftlich und umgangssprachlich beherrscht und war der Ideengeber für die Volkshochschule.

Welche Sprachen wurden angeboten?

Alle, die relevant waren. Theo Altmeier hat Italienisch, Serbokroatisch und Russisch unterrichtet. Nur für Französisch hat er eine Muttersprachlerin engagiert. Ich habe einen Anfängerkurs für Englisch gegeben. Und meine Frau hat die Kochkurse geleitet. Es war fast ein Familienbetrieb.

Was wurde da gekocht?

Meine Frau war Landwirtschaftslehrerin. In ihren Kursen ging es anfangs um Grundlagen der bayerischen Küche. Es kamen viele berufstätige Männer und Frauen, vor allem Singles, die wenig Kenntnisse im Kochen hatten. Später wurden speziellere Themen angeboten, etwa Weihnachtsbäckerei oder chinesische Küche.

Aus einer Handvoll Kursen sind mittlerweile 500 im Jahr geworden.

Ja, anfangs reichte uns ein Faltblatt aus, das wir überall ausgelegt haben. Heute haben wir ein richtiges Programmheft. Die digitale Welt ist der Maßstab aller Dinge geworden.

Sie sind Lehrer. Warum hatten Sie 1973 den Wunsch, eine Volkshochschule zu gründen?

Es war so, dass Theo Altmeier sich an mich gewandt hat. Er wollte zumindest einen gelernten Pädagogen an der Seite haben. Ein solches Bildungsangebot war damals dringend notwendig. In den Schulen begann man gerade mit dem Englisch-Unterricht in den fünften und sechsten Klassen. Aber viele Betriebe forderten Englisch-Kenntnisse von ihren Mitarbeitern. Das Industriegebiet in Wolfratshausen expandierte. Die Firmen haben ihre Mitarbeiter zu Englisch-Grundkursen geschickt.

Sie haben also Wirtschaftsenglisch unterrichtet?

Nein, die Grundbegriffe, die viele Erwachsene damals nicht kannten. Wirtschaftsenglisch für Fortgeschrittene hat auch Theo Altmaier unterrichtet.

War es schwierig für Sie, plötzlich vor Erwachsenen zu stehen?

Nicht wirklich, darin hatte ich schon Übung. Damals war Mengenlehre an der Volksschule aktuell. Die haben die Kinder nicht verstanden und die Eltern noch weniger. Deshalb habe ich den Eltern Kurse gegeben, damit sie ihre Kinder unterstützen konnten. Der Vorteil war, dass sie lernen wollten, da war ein Interesse da. Bei den Kindern war das nicht immer der Fall.

Die Lernenden an der Volkshochschule sind aufmerksamer?

Ja. Auch wenn sie sich manchmal schwertun. Ich kannte jemanden, der ist dreimal in meinen Anfängerkurs gekommen. Er hat gesagt: Wissen'S was, ich hab' daheim keine Zeit, etwas zu lernen. Ich höre mir das lieber hier noch ein paar Mal an. So war die Situation damals.

Was konnten die Leute nach Abschluss Ihres Kurses?

Das Ziel war, sich elementar verständigen zu können. Nach 30 Stunden haben sie ungefähr so viel gekonnt wie die Fünftklässler am Ende des Schuljahrs.

Gibt es heute noch vergleichbare Kurse im Angebot?

Das Englisch ist zurückgegangen, nachdem der Englisch-Unterricht an allen Schulen ausgebaut wurde. Gleichzeitig gab es einen wirtschaftlichen Aufschwung, immer mehr Leute sind in den Urlaub gefahren und wollten Spanisch oder Italienisch lernen. Da gibt es noch immer eine große Nachfrage.

Als Geschäftsführerin leitet Christine Hohnheiser seit 20 Jahren die Volkshochschule Wolfratshausen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Etwa 5000 Leute besuchen die Kurse im Jahr. Wo liegt der Altersdurchschnitt?

Das ist von Kurs zu Kurs zu verschieden. Es gab Bastelgruppen für Kinder oder Sportgruppen für Jugendliche. Heute bieten wir Vorbereitungskurse für die Abschlussprüfungen zur Mittleren Reife und zum Abitur an. Mit Beginn des digitalen Zeitalters haben wir auch mehr Angebote für Senioren geschaffen. Da gab es einen großen Bedarf, von der Digitalfotografie bis hin zum Computer.

Erster Vorsitzender des Vereins ist satzungsgemäß der amtierende Erste Bürgermeister der Stadt Wolfratshausen. Sie haben vor Klaus Heilinglechner mit Willy Thieme, Erich Brockard, Peter Finsterwalder, Reiner Berchtold und Helmut Forster zusammengearbeitet. Wer war der bildungsfreudigste Rathauschef?

Allein vom Temperament her waren alle sehr verschieden. Reiner Berchtold hat wie Klaus Heilinglechner unsere Sache ernst genommen. Am Anfang hatten wir Schwierigkeiten, da sind wir auch von den Stadträten als linke Spinner belächelt worden: Wozu eine Volkshochschule? Wir sind doch schulisch gut versorgt! Die SPD hat damals mehr Wert auf Bildung gelegt, da war die CSU noch lange nicht so weit. Das hat sich grundlegend gewandelt. Wir bekommen viel Unterstützung von der Stadt.

Was wünschen Sie sich zum Jubiläum?

Was uns noch immer fehlt, sind eigene Räume. Die Geschäftsleitung ist im Haus der Stadtbibliothek angesiedelt, aber alle anderen Räume sind in einem Umkreis von fünf, sechs Kilometern verstreut. Das ist für eine Stadt wie Wolfratshausen eigentlich unmöglich. Mal war das ehemalige Landwirtschaftsamt im Gespräch, mal die aufgelöste Polizeistation, aber alle Gelegenheiten sind vorübergegangen. Wir wünschen uns Räume in einem zentral gelegenen Gebäude. Das wäre das schönste Geschenk für uns.

Abgesehen davon, haben sich Ihre Hoffnungen, die Sie bei der Vereinsgründung hatten, erfüllt?

Absolut. Man könnte sagen, wir sind von der Amateur- in die Profiliga aufgestiegen. Ich bin immer noch überrascht, wie schnell das gegangen ist. Am Anfang hat Franziska Altmeier die Geschäftsführung ehrenamtlich nebenbei erledigt. Nun haben wir seit 20 Jahren mit Christine Hohnheiser eine professionelle Geschäftsführerin. Da muss man immer wieder dankbar sein, dass wir die gefunden haben!

Welchen Kurs würden Sie gerne einmal besuchen?

Ich habe es bislang nicht geschafft, mir ein Handy zuzulegen. Aber allmählich hängt alles vom Handy ab - alle Formalitäten. Ich hatte bislang nicht den Mumm, mich da reinzuknien. Aber das wäre für mich jetzt das Wichtigste. Und ich glaube, dass es vielen in meinem Alter so geht.

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