Tattoo-Messe in Wolfratshausen:Bis auf die Zehen verziert

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Bei der Tattoo-Convention in der Loisachhalle zeigt die Szene die Bandbreite der permanenten Körperverzierung - und dass sie trotz Kampf mit Corona und EU-Bestimmungen noch immer sehr lebendig ist.

Von Veronika Ellecosta, Wolfratshausen

Tätowierungen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, in Deutschland trägt inzwischen jede fünfte Person eine bleibende Verzierung unter der Haut. Bei der Tattoo-Convention am Wochenende vor Allerheiligen in der Wolfratshauser Loisachhalle sind es nahezu 100 Prozent der Besucher. Der permanente Körperschmuck ist längst raus aus der Schmuddelecke und erregt kaum noch öffentliches Aufsehen, sondern im besten Fall höfliches Interesse an den Hintergründen der Motivwahl. Ein Streifzug durch die Tattoo-Messe in Wolfratshausen zeigt: Die Menschen dort kämpfen nicht mehr gegen Stigmatisierung und Klischees, aber mit EU-Bestimmungen, der Coronakrise und dem eigenen Budget.

Wer die Loisachhalle nach strenger 3G-Kontrolle betritt, kommt kaum an Piet und seinem strategisch klug im Eingangsbereich positionierten Stand vorbei. Der Mann mit den weißen, langen Rastazöpfen hängt ein Plakat auf. Die Messe hat gerade erst begonnen und Piet, der seinen Nachnamen nicht für erwähnenswert hält, muss noch feinjustieren. Er ist 60, das Alter sieht man ihm aber nicht an - wie auch: Sein Gesicht hat er mit sehr vielen Tattoos geschmückt, sogar die Augenlider sind gemustert. Piet ist bis auf die Zehen verziert, "auch in der Körpermitte", sagt er und lacht, wobei ein halb abgebrochener Schneidezahn zum Vorschein kommt.

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Piet nennt sich selbst "freaky", und er hat einen Beruf gewählt, der ihm die Freiheit gewährt, so zu sein. Seine Tattoos sticht er händisch, handpoked nennt man das. Auf der Theke vor ihm liegen Bambusstifte mit Nadeln, sein Werkzeug. Das Stechen per Hand statt Maschine erlaubt es Piet, die Geschwindigkeit zu kontrollieren und filigraner zu arbeiten. Die traditionelle polynesische Art der Tätowierung erfreut sich neuerdings eines wachsenden Kundenstammes, passend zur Sehnsucht nach dem Ursprünglichen.

Die Messe in Wolfratshausen ist in Schwarz gehalten, was dem Thema des Samstags gut entspricht: Die Aussteller haben sich stilistisch dem Black and Grey, Realistic und Old School verschrieben. An den Ständen stehen Menschen in Kapuzenpullovern, auf den Tischen liegen Motive zur Auswahl: Raben, Skelette, Wölfe, Runen, aber auch betende Dürer-Hände, Kreuze und Vodoo-Puppen. Ein 33-jähriger Mann namens Michi aus Landsberg ist der erste, der seinen Arm auf einen Tisch legt und sich von einem Künstler unter dem hellen Licht einer Lampe tätowieren lässt. Die kleine Maschine surrt, während sie Farbe in die Haut sticht. Ein Drache soll es werden. Auf die Messe ist Michi mit dem festen Vorsatz gekommen, sie mit einem Tattoo wieder zu verlassen. Er hat seinen Vorsatz schnell erfüllt.

Am Vormittag ist die Ausstellung mäßig besucht. Die meisten, die durch die Reihen schlendern, sind zögerlicher als Michi und schauen sich erst einmal um. Viele von ihnen stellen ihre eigenen Tattoos auf den Armen oder im Nacken stolz zur Schau.

Es gibt aber auch junge Eltern in Pullunder und Frauen in Trenchcoats zwischen Männern in engen schwarzen T-Shirts und schwarzen Cargohosen. Rebekka und Kathrin, beide 25, möchten sich gerne einen Hundeknochen und eine Pfote stechen lassen, später diskutieren die beiden an einem Stand über ein Gänseblümchen in Originalgröße. Die 22-jährige Anna aus Gelting mag es minimalistisch und hofft, dass ihr nächstes Tattoo sie nicht zu viel Geld kosten wird. Ihr Partner Justin sucht was in Richtung "Chemical" und greift auch selbst gern zur Tätowiermaschine. Cosim aus München trifft man kurz vor Mittag auf einer Liege. Sein Unterschenkel wird gerade mit einem Frauenkopf in Fesseln verziert. Gute sechs Stunden muss er dort noch liegen, ein paar Zigarettenpausen inklusive. Geduld für lange Sitzungen bringt man in der Loisachhalle gerne mit, denn alle sind sich einig: Fange man einmal mit den Tattoos an, wolle man immer mehr.

Weil der Trend zur Tätowierung nicht abreißen will, braucht es auch Nachschub. Bei Hel's Kitchen werden regalweise Tintenfässchen in allen Farben verkauft. Inhaber Thomas Helbeck ist wütend. Den Großteil der ausgestellten Farbe müsse er 2022 vernichten, sagt er: beinahe sein ganzes Lager. Schuld sei eine neue Chemikalienverordnung in der EU, die im kommenden Jahr in Kraft trete und einen Großteil der Tattoo-Farben verbiete. Dabei sei an denen bisher noch niemand gestorben, sagt Helbeck kopfschüttelnd. Der Zeitpunkt sei außerdem für die Branche denkbar ungünstig: Coronabedingt hätten viele Studios aufgegeben, und die anderen begännen gerade erst, sich wieder zu erholen.

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Mittags füllt sich die Loisachhalle, auf den Liegen der Stände nehmen immer mehr Menschen Platz. Körperhaare werden von Armen und Beinen rasiert, Schultern freigelegt, die ersten Bierflaschen über den Bartresen geschoben. Für die Tätowierer und Tätowiererinnen beginnt das Hauptgeschäft. Piet vom Eingangsbereich tritt vor die Halle, wo die Vans parken und die Raucherpausen stattfinden. An seinem Stand ist noch kaum was los, an seine Handpoked-Technik scheint sich noch niemand so recht zu trauen. Aber der Tattoo-Tag ist noch jung.

© SZ vom 02.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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