Digitalisierung in der Medizin:"Wir wollen doch irgendwann verstehen, warum Krebs entsteht"

Lesezeit: 4 min

Anna Bauer-Mehren leitet die Data Science-Abteilung am Roche-Standort in Penzberg. (Foto: Roche/oh)

Das Thema Digitalisierung ist im deutschen Gesundheitswesen "ein bisserl verschlafen" worden, findet Anna Bauer-Mehren. Die Wissenschaftlerin forscht bei Roch an der Weiterentwicklung von Therapien. Was sie dazu braucht? Daten.

Von Alexandra Vecchiato

Daten sind ein großer Schatz. Allerdings nur, wenn man sie richtig lesen kann. Da kommt der Data Scientist ins Spiel. Er muss nicht nur viel Ahnung von Statistik und Algorithmen haben, sondern auch von der Materie, die er untersucht. In der Medizin, egal ob Pharmazie oder Diagnostik, nimmt die Auswertung von Patientendaten einen immer größer werdenden Stellenwert ein.

Am Roche-Standort in Penzberg beschäftigen sich Wissenschaftler mit der Digitalisierung der Medizin. Unter ihnen Anna Bauer-Mehren, die Leiterin der Data-Science-Abteilung in der Pharmaforschung im Nonnenwald. Ihr Fachgebiet: Daten so aufzubereiten und auszuwerten, dass neue Erkenntnisse für die Erforschung, Entwicklung und Optimierung von pharmazeutischen Produkten und Therapien gewonnen werden. "Wir wollen die Daten verstehen, interpretieren und zum Beispiel einen Biomarker finden, der erklärt, warum manche Patienten auf ein Medikament ansprechen und andere wiederum nicht", sagt die 39-Jährige.

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Data Science - damit hatte die gebürtige Münchnerin zunächst nichts am Hut. Die Daten-Wissenschaft ist ein noch junger Berufszweig. "Zahlen fand ich allerdings schon immer gut", erzählt sie. So lag ein Mathematikstudium nahe. Es sollte anders kommen. In München wurde ein neuer Studiengang eingeführt: Bioinformatik. Die interdisziplinäre Kombination aus Biologie und Informatik reizte Anna Bauer-Mehren. "Ich finde es spannend, Zusammenhänge zu finden." Doch das allein reichte ihr nicht. "Ich brauche einen richtigen Motivator. Ich möchte wirklich an den Patienten sein." Der Grund, warum sie sich der biomedizinischen Informatik zuwandte.

Ihr akademischer Weg führte sie an die Universität Pompeu Fabra in Barcelona, wo sie in biomedizinischer Informatik promovierte. Danach ging sie als Postdoktorandin an die Stanford School of Medicine. "Ich habe mir immer schöne Städte ausgesucht: Barcelona, San Francisco und schließlich wieder München", sagt die Wissenschaftlerin, die seit 2014 die Abteilung Data Science in Penzberg leitet.

Vor allem in den USA kam sie mit dem Thema "elektronische Patientenakten" in Berührung. Jenseits des Atlantiks ist man viel weiter, was die Verwertung von und die Arbeit mit solchen Daten angeht. Auch, weil diese nicht den Patienten gehören, sondern demjenigen, der sie erfasst hat. Das wäre in Deutschland undenkbar. "Die Digitalisierung der Medizin hat man hier ein bisserl verschlafen", bedauert Bauer-Mehren zwar und möchte die Vorteile ihres Forschungszweiges in den Fokus rücken. Keinesfalls spricht sie sich gegen den strengen Datenschutz in Deutschland aus. Vielmehr möchte sie um Vertrauen werben.

Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben in der Bundesrepublik und in Europa werde kein Schindluder mit Patientendaten getrieben, ist sie sich sicher. "Uns reichen anonymisierte Angaben. Daten wie Namen werden durch Nummern ersetzt, das Geburtsdatum wird nicht erfasst, sondern nur eine grobe Altersgruppe." Eine Rückverfolgung der Daten, die konkret auf die Identität des Erkrankten hinweisen, sei für Roche nicht möglich. "Wir wollen doch aber irgendwann verstehen, warum Krebs entsteht. Oder warum manche Menschen schlimmer an Covid erkranken als andere", betont die 39-Jährige.

Anna Bauer-Mehren und ihr Team besprechen Erkenntnisse für die Entwicklung von pharmazeutischen Produkten und Therapien, die aus anonymen Patientendaten gewonnen werden. (Foto: Roche/oh)

Nur mit der Auswertung möglichst vieler Daten - und das weltweit - ließen sich bessere Medikamente und Therapien, maßgeschneidert auf den jeweiligen Patienten, entwickeln. Über die Chancen von Data Science in der Medizin und Pharmazie wird Anna Bauer-Mehren bei einer Online-Podiumsdiskussion berichten, die Roche in Penzberg am Dienstag, 27. April, organisiert.

Zehn Jahre ist ihr Aufenthalt in Stanford her. "Schon damals gab es eine eigens für die Forschung geführte Datenbank. Ärzte konnten sich mit Fragen direkt an die Wissenschaftler wenden." Beispiel: Ein Arzt hat ein siebenjähriges Mädchen als Patientin mit kritischen Laborwerten. Er selbst weiß nicht, wie er diese interpretieren soll, geschweige denn das Mädchen behandeln. Die Wissenschaftler können dem Arzt anhand der von ihnen ausgewerteten Patientendaten zehn andere Mädchen mit gleichem Krankheitsbild nennen. "Das führt zu einer besseren Therapie."

Damit dieser "Service" möglich wird, braucht es ein Instrument, das Daten analysiert, Muster erkennt und Zusammenhänge aufzeigt. Bauer-Mehren hat mit ihrem Team in Zusammenarbeit mit der Onkologie ein solches Tool namens "RoPro" entwickelt. Die Abkürzung steht für Real World Data Oncology Prognostic Score. "RoPro zeigt, was man mit Daten alles machen kann", erklärt die Spezialistin. Mit dem computerbasierten Prognose-Instrument können Forscher und Mediziner die Überlebenswahrscheinlichkeit von an Krebs erkrankten Menschen besser einschätzen.

"In Zukunft wäre es toll, wenn etwa auch die Lebensumstände der Patienten einfließen könnten"

Zwei Jahre hat die Entwicklung gedauert. "Das Programmieren geht schnell, was danach kommt, ist zeitintensiv." Informationen aus elektronischen Akten von mehr als 120 000 Patienten wurden eingespeist und ausgewertet. Verwendet wurden Daten aus den USA. Nun müsse RoPro beweisen, dass es auch mit Daten von Erkrankten aus Deutschland funktioniere. Zu diesem Zweck strebt das Pharmaunternehmen Kooperationen mit Krankenhäusern an.

An Kliniken und in Arztpraxen lägen unzählige Informationen vor. Forschenden Firmen wie Roche stünden indes nur Daten aus eigenen klinischen Studien und Projekten zur Verfügung. Das seien lediglich fünf Prozent der Daten. Der große Rest dürfe nicht verloren gehen. "Die Gesundheitsdaten aus der ,realen Welt' sind immens wichtig", betont Bauer-Mehren. Doch Daten sind nicht gleich Daten. "Für die medizinische Forschung ist deren Qualität von Bedeutung." Werde etwa ein Medikament entwickelt, fielen sehr große Datenmengen an. Früher seien sie nicht derart aufbereitet worden, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt in der Forschung oder bei der Entwicklung anderer Medikamente genutzt werden konnten.

Das hat sich grundlegend geändert - nicht zuletzt wegen des Bereichs Data Science. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat den Mehrwert der digitalisierten Medizin erkannt. Es gebe eine "schnell wachsende Menge an gesundheitsrelevanten Daten", heißt es auf dessen Homepage. Medizinische Daten wie Anamnese, Blutwerte oder Befunde würden in Praxen direkt im Computer erfasst, ebenso komplette Genome, etwa von bösartigen Tumoren, die in der biomedizinischen Forschung bearbeitet werden. Sie alle gelte es "intelligent" zu verknüpfen.

"In Zukunft wäre es toll, wenn etwa auch die Lebensumstände der Patienten einfließen könnten", sagt Bauer-Mehren dazu. Einfließen sollen ebenso jene Daten, die von Menschen mit den eigenen Smartphones oder Wearables, also mit intelligenten elektronischen Geräten, die an der Hautoberfläche getragen werden, selbst erfasst würden. "Das wäre meine Vision", sagt Bauer-Mehren. Die Zukunft der Medizin - sie muss nicht zwangsläufig im Labor stattfinden. Ein Büro und ein Computer tun es auch.

"Digitalisierung in der Medizin - Was die Daten uns verraten", virtuelle Podiumsdiskussion am 27. April, kostenlos, ohne Anmeldung, Streaming via Youtube: go.roche.com/DigitalisierungInDerMedizin; Diskussion über Sli.do (Event Code: RT2021), Start: 16.30 Uhr

© SZ vom 24.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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