SZ-Serie: Vergessene Orte im Münchner Umland:Explosive Geheimnisse

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Der "Blaue Bunker" ist einer der bekanntesten Ruinen in Geretsried. Immer wieder wurde diskutiert, ihn umzunutzen, heute aber ist er wegen Rissen nicht mehr zugänglich. (Foto: Hartmut Pöstges)

Im Wald am Rande von Geretsried finden sich nach wie vor Reste jener Bunkeranlagen, in denen das NS-Regime einst hochgefährliche Munition herstellen ließ. Im Kalten Krieg spielte der Standort weiter eine besondere Rolle - diesmal für die Staatsregierung.

Von Claudia Koestler, Geretsried

Trockene Äste knacken unter den Sohlen, das Laub raschelt. Nur wenige Meter hinter dem Festplatz an der Jahnstraße in Geretsried, wo Kinder auf der Straße spielen und Nachbarn am Gartenzaun ratschen, beginnt ein Wald, der mehr ist als ein stadtnahes Grün zur Erholung. Bäume legen Schatten über einen Ort dunkelster Geschichte. Dem aufmerksamen Spaziergänger aber geben sie einen Blick in die Vergangenheit frei, der so real wie erschreckend ist. Denn dort, wo sich heute die größte Stadt im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, Geretsried, befindet, wurde im Zweiten Weltkrieg ein bedeutender Teil des Sprengstoffvorrats für die Wehrmacht hergestellt. Im Wald am Rande der Stadt finden sich nach wie vor Reste jener Bunkeranlagen.

Bunkerreste im Wald, aber zugleich auch nahe dem Schulzentrum Geretsried. (Foto: Hartmut Pöstges)

Vom Jahr 1938 an bauten die Munitionsfabriken Dynamit Aktiengesellschaft (DAG) und Deutsche Sprengchemie (DSC) nach und nach rund 650 Bunker in den dichten Wald zwischen Bad Tölz und Wolfratshausen - damals Wolfratshauser Forst genannt -, um darin die Munitionsproduktion unterzubringen. Anfangs mussten noch dienstverpflichtete Deutsche aus München und Umgebung dort arbeiten, später waren es tausende Zwangsarbeiter, die dort unter unmenschlichen Bedingungen schufteten. Die Anlagen dazu wurden durch den bestehenden Wald getarnt.

Der "Blaue Bunker" ist eingewachsen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Wenn es nach den Nationalsozialisten gegangen wäre, hätte die geheime Industriestadt im Wald noch größer werden sollen. Doch nicht alle Bauten wurden fertiggestellt. Darunter fällt auch der bekannte "Blaue Bunker" nahe des Isardamms. Zur Zeit seiner Entstehung trug er lediglich die Nummer 356 und war als Trockenhaus für die Pikrinsäure-Abteilung der Dynamit AG gedacht. Die Säure sollte als Sprengstoff in Granaten dienen. 1943 stellte die Munitionsfabrik jedoch die Bauarbeiten an dem Gebäude ein, weil die extrem gefährliche Säure durch den Sprengstoff TNT (Trinitrotoluol) ersetzt wurde. Seine Farbe, weswegen er heute im Volksmund als Blauer Bunker bekannt ist, erhielt er in der Nachkriegszeit durch die zahlreichen Graffiti, die ihn zieren.

Graffiti zieren den Bunker nahe dem Geretsrieder Festplatz, weshalb er im Volksmund den Namen Blauer Bunker trägt. (Foto: Janina Kube/oh)

Am 9. April 1945 aber starteten 76 amerikanische Kampfflugzeuge von mehreren Stützpunkten in England mit einem klaren Ziel: die Dynamit-AG im Wolfratshauser Forst. Mehr als 2000 Bomben warf das Geschwader innerhalb von drei Minuten, genauer gesagt von 17.19 bis 17.22 Uhr, über dem Rüstungsstandort ab.

Die DAG Rüstungsbetriebe im Wolfratshauser Forst wurden am 9. April 1945 von den US-Streitkräften bombardiert. Das Verwaltungsgebäude der Munitionsfabrik ist heute das Geretsrieder Rathaus. (Foto: Günther Fechner/Stadt Geretsried/oh)

Was danach noch stand, wollten die Amerikaner nach Kriegsende eigentlich sprengen - so auch 1948 den Blauen Bunker. Doch schnell mehrten sich auch Stimmen, dass zumindest Teile der mal unterirdischen, mal oberirdischen Betongebäude vielleicht noch zu gebrauchen seien, schließlich hatten sie eine Stadt gebildet - mit Straßen, Gleisen, Stromnetz, Telefonleitungen, Wasser und Kanalisation, also einer dezidierten Infrastruktur. Allein die Deutsche Sprengchemie verfügte über neun Kilometer Gleise im Wald.

Ein sogenannter Ein-Mann-Bunker neben der B 11 in Geretsried wird beim Vorbeifahren kaum wahrgenommen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Geretsried war bis dahin, abgesehen von der geheimen Rüstungsanlage im Wald, lediglich ein kleiner, landwirtschaftlicher Weiler. Doch von 1946 an kamen dort zahlreiche Vertriebenentransporte an, die Menschen wurden zunächst in Baracken des Arbeitslagers Buchberg einquartiert. Später, als es dort zu eng wurde, kamen Menschen auch in den noch verbliebenen Bunkern unter. Der Blaue indes, der nie fertiggestellt worden ist und eigentlich auch auf der Sprengungsliste stand, entging in den Nachkriegswirren diesem Schicksal und blieb - zunächst unauffällig - stehen, bis er in den 1960er bis 1980er Jahren mehr und mehr in den Fokus von Jugendlichen geriet, die dort mit Graffiti-Sprühereien der Subkultur frönten.

Lange war die Ruine ein Treffpunkt für Jugendliche. (Foto: Hartmut Pöstges)

Heute kann man viele der mit Moos bewachsenen Bunker nur noch erahnen. Man übersieht die Überreste schnell, und es kann passieren, dass man über Steine oder kleine Stahlgitter stolpert, wenn man nicht auf den befestigten Wegen bleibt. Der Blaue Bunker hingegen sticht weiterhin heraus - alleine schon ob seiner Graffiti-Farben und seiner Nähe zum Festplatz. Wie es mit den Bunkern im Allgemeinen und dem Blauen im Besonderen weitergehen soll, bewegt die Stadt in unregelmäßigen Abschnitten. Vor einigen Jahren etwa gab es aus den Reihen des Stadtrats den Vorschlag, aus dem Blauen Bunker eine Freiluftbühne zu machen, was allerdings wegen des schlechten baulichen Zustands verworfen wurde. Lange Risse durchziehen nämlich inzwischen den Beton, Wurzelwerk hat sich seinen Weg durch die Mauerspalten gebahnt.

Heute ist der Blaue Bunker mit einem Bauzaun abgeriegelt - vorbei sind die Zeiten als subversiver Jugendtreff. Eingerichtet wurde die Absperrung während des "Sommer dahoam", also zu Beginn der Corona-Pandemie. Unter strengen Auflagen war es der Stadt gelungen, ein Festzelt zu organisieren. Allerdings war dieses Volksvergnügen so ausgerichtet, dass es Kinder hätte verleiten können, in der Ruine herumzuklettern, was durch den baulichen Zustand höchst gefährlich gewesen wäre. Nach dem Volksfest entschloss sich die Stadt, den Bauzaun aus eben diesen Sicherheitsgründen bis auf Weiteres stehen zu lassen.

Eine besondere Beziehung zu Bunkern hat Geretsried aber auch abgesehen von den baulichen Altlasten aus dem Zweiten Weltkrieg behalten. Denn in Zeiten des Kalten Kriegs unterhielt Bayerns Regierung einen getarnten Ausweichsitz in der Stadt - samt Bunker. Während die Westmächte und der Ostblock wechselseitig aufrüsteten, wurde die Gefahr eines Atomschlags imminent. In einem solchen Falle sollte der Freistaat von Geretsried aus weiterregiert werden.

Dieser Nachkriegsbunker war einst für die bayerische Staatsregierung vorgesehen - im Falle eines Atomschlags. (Foto: Hartmut Pöstges)

Viele Jahre lang galt dies als eines der bestgehüteten bayerischen Staatsgeheimnisse, heute ist es flächendeckend bekannt, dass der Schutzraum im Keller der staatlichen Feuerwehrschule existiert und noch bis in die 1990er Jahre unterhalten worden ist. Mit dem gegenwärtigen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist das Thema Nuklearschlag wieder akut, weshalb die Regierung im vergangenen Jahr prüfen ließ, welche ehemaligen Bunker sich gegebenenfalls reaktivieren ließen.

178 Menschen hätten im Schutzraum im Keller der staatlichen Feuerwehrschule unterkommen können. (Foto: Hartmut Pöstges)

Geretsried aber fiel durch, seit Mai 2022 ist klar, dass auch diese Bunkeranlage nicht mehr betriebsbereit ist. Der Bau, in dem bis zu 178 Menschen hätten unterkommen können, hat zwar Strom und Telefon, Sanitäranlagen und an den Wänden ausklappbare Pritschen sowie eine Luftfilteranlage.

Das Nötigste: Strom und Telefon, Sanitäranlagen und an den Wänden ausklappbare Pritschen sowie eine Luftfilteranlage. (Foto: Hartmut Pöstges)
Eine Überprüfung hat ergeben: nicht mehr geeignet. (Foto: Hartmut Pöstges)

Doch die Betonwände sind zu dünn. Gut möglich, dass er nun schneller verschwinden wird als jene Anlagen im Wald. Denn die Feuerwehrschule wird derzeit erweitert und der Regierungsbunker wohl im Zuge der Arbeiten abgerissen.

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