Landtagswahl im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen:"Jeder hat das Recht, barrierefrei zu wählen"

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Das Kochler Rathaus ist nur über eine Treppe zu erreichen - und auf der fehlen die Stufenmarkierungen. Für blinde und sehbehinderte Menschen wie Markus Ertl kann dies eine Gefahr darstellen. (Foto: Manfred Neubauer)

Wie können inklusive Abstimmungen gelingen? Markus Ertl zeigt am und im Kochler Rathaus, wo die Hürden für Menschen mit Behinderung liegen.

Von Celine Chorus, Kochel am See

Es beginnt schon auf der kurzen Strecke vom Parkplatz bis zum Eingang: Der Boden vor dem Rathaus in Kochel am See ist mit Kopfsteinen gepflastert und das Erdgeschoss kann nur über eine Treppe erreicht werden. Markus Ertl hat zwar seinen weißen Langstock dabei, freut sich aber über einen Arm, an dem er sich festhalten kann. Ein taktiles Leitsystem, das ihm bei der Orientierung helfen würde, fehlt - und auch dass das Rathaus einen barrierefreien Zugang hat, ist nicht ausgeschildert.

Bei einem Termin mit Bürgermeister Thomas Holz (CSU) möchte Ertl zeigen, wo bei den Landtags- und Bezirkswahlen am 8. Oktober die Hürden für Menschen mit Behinderung liegen. Wegen einer degenerativen Netzhauterkrankung ist Ertl blind mit Sehrest. Der 49-Jährige kann also noch Bewegungen registrieren, aber keine Menschen mehr erkennen und braucht Brailleschrift zum Lesen. Als Inklusionsbotschafter engagiert er sich im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen für eine bessere Teilhabe behinderter Menschen am öffentlichen Leben.

"Demokratie braucht Inklusion", lautet das Motto von Jürgen Dusel, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Barrierefreiheit werde jedoch oftmals nicht zu Ende gedacht, meint Ertl. Viele Wahllokale würden zwar als barrierefrei bezeichnet, dabei werde aber meist nur an Rollstuhlfahrer gedacht - und auch deren Bedürfnisse würden oft nicht ausreichend berücksichtigt. Blinde und sehbehinderte Menschen - aber auch Menschen mit anderen Behinderungen - seien in der Vergangenheit nur in den wenigsten Gebäuden bedacht worden.

Das zeigt sich beim Rundgang durch das Kochler Rathaus: Dort gibt es zwar ein Liftsystem, mit dem bewegungseingeschränkte Menschen in den ersten Stock befördert werden können. Bei den Stufen fehlen jedoch Markierungen mit Leuchtdichtekontrast, die für blinde und sehbehinderte Menschen zu erkennen sind - ohne diese Elemente stellen Treppen eine Gefahr für sie dar.

Bei dieser alten Treppe fehlen die Stufenmarkierungen. (Foto: Manfred Neubauer)

Erst ab den Stufen, die in den ersten Stock führen, sind diese vorhanden. Sie sind fast bündig in den Treppenbelag integriert, aber für Ertl mit seinem Langstock zu ertasten.

Wenn Markierungen vorhanden sind, kann Ertl sie mit seinem Langstock ertasten. (Foto: Manfred Neubauer)

Und er macht noch auf ein weiteres Problem aufmerksam: Es gibt keine beidseitigen Handläufe. Mit der Folge, dass sich das Geländer für Menschen, die nur eine Hand benutzen können, auf der falschen Seite befindet.

Der Handlauf ist gut, fehlt aber auf der linken Seite. (Foto: Manfred Neubauer)

Der Arbeitskreis für Menschen mit Behinderung im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen möchte die breite Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren. "Jeder hat das Recht zu wählen - und jeder hat auch das Recht, barrierefrei zu wählen." Damit dies funktioniert, setzt der Arbeitskreis auch auf die Hilfe der Kandidaten für die Landtags- und Bezirkswahlen. Sie sind eingeladen, eine Patenschaft für ihr persönliches Wahllokal zu übernehmen. Von den Landtagskandidaten schauen Thomas Holz auf das Rathaus in Kochel am See und Sebastian Englich (Die Linke) auf die Dreifachturnhalle in Bad Tölz. Auch die Bezirkstagskandidaten Thomas Schwarzenberger (CSU), Konrad Specker (Freie Wähler) und Marius Schlosser (Grüne) beteiligen sich an der Aktion. Ziel ist es, dass nochmals genau hingesehen wird, ob die Wahlräume auch tatsächlich barrierefrei sind - oder nur zugänglich -, um dann für die Wahlen in fünf Jahren nachzurüsten.

Barrierefreiheit wird im Bayerischen Behindertengleichstellungsgesetz definiert und soll für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sorgen. Verfeinert wird die Bezeichnung nochmals durch die DIN 18040-1 für öffentlich sowie die DIN 18040-2 für nicht-öffentlich zugängliche Gebäude - und trotzdem würden oft wesentliche Elemente vergessen. "Es geht bei Barrierefreiheit um die Feinheiten." Wie Ertl betont, gelte ein Gebäude schon als zugänglich, wenn eine Rampe angeboten wird: "Das stimmt auch, aber es ist nicht barrierefrei."

Dafür sind Parkplätze in der Nähe des Eingangs anzuordnen, Gehwege müssen mindestens 1,50 Meter breit sein, Eingangstüren sollten automatisch zu öffnen und zu schließen sein, Hinweise müssen auch für seh- und hörbehinderte Menschen leicht erfassbar sein - und das sind nur einige Beispiele, die ohnehin schon für öffentliche Gebäude gelten. Politische Teilhabe beginnt aber eben nicht erst mit der Stimmabgabe. Ertl möchte sich auch schon davor in Diskussionen einbringen können.

Inklusionsbotschafter Markus Ertl möchte die Öffentlichkeit für Barrierefreiheit sensibilisieren. (Foto: Manfred Neubauer)

Als Beispiel nennt er eine Benachrichtigung, die ihm per Post zugestellt wird. "Die bringt mir als Blinder nicht viel und landet meistens sehr schnell im Papierkorb." Deshalb sei es wichtig, dass alle Informationen digital zur Verfügung gestellt werden - und er sich diese auch mittels Sprachausgabe vorlesen lassen kann.

Noch nicht alle Wahlprogramme in "leichter Sprache"

Zudem seien viele Menschen auf die sogenannte leichte Sprache angewiesen, um ein Verständnis für Politik zu bekommen. Bei den meisten Parteien scheint dafür ein Bewusstsein zu herrschen: Die Freien Wähler, die Grünen, die SPD, die FDP, die Linke und die ÖDP bieten ihre Wahlprogramme diesmal auch in leichter Sprache an. Die CSU und die AfD verzichten darauf.

Das sind jedoch nicht die einzigen Hürden, auf die Menschen mit Behinderung stoßen: "In Bayern kann ich nicht geheim wählen, weil es keine Wahlschablonen gibt." Diese Bögen, die ausgestanzte, schwarz umrandete Löcher an den Stellen haben, wo Kreuze gesetzt werden können, werden diesmal bei den Landtags- und Bezirkswahlen erst getestet - und dies auch nur in Mittelfranken. Die Konsequenz: Ertl braucht immer eine Person, der er vertrauen kann. Oder er geht mit einer fremden Person in die Kabine, die dann weiß, was er wählt - und von der Ertl nicht weiß, ob sie das Kreuz auch dort macht, wo er es wollte. "Das gibt mir ein blödes Gefühl."

Markus Ertl würde sich wünschen, dass sich in Zukunft nur solche Wahllokale als barrierefrei bezeichnen dürfen, die es auch tatsächlich sind. Denn: Was wäre, wenn um 17.45 Uhr noch jemand wählen möchte und auf der Benachrichtigung steht, dass der Wahlraum barrierefrei sei - und er es eigentlich nicht ist? Dann müssen, wie in Kochel schon geschehen, die Wahlkabine und die -Urne nach draußen getragen werden. "Aber was ist, wenn derjenige gar nicht wahrgenommen wird?"

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