Norman Weber ist ein akribischer Forscher. Einer, der es genau wissen will. Der recherchiert, sich durch Archive wühlt und nachfragt. Aber auf eine Frage hat er bis heute keine glaubwürdige Antwort bekommen. Norman Weber ist 88 Jahre alt. Er war vier, als seine deutschen Eltern mit ihm und seiner kleineren Schwester Luise aus New York zurück nach Nazi-Deutschland gingen. Aus der Sicherheit, in der die Kinder - bereits als amerikanische Staatsbürger geboren - in den USA gewesen wären, in die Gefahren einer kriegswütigen faschistischen Diktatur. Wären sie in den USA geblieben, wäre dem Kind Norman viel erspart worden, was ihn bis heute schwer belastet. Warum also kam die Familie damals nach Deutschland zurück?
Am Dienstag hat Norman Weber als Zeitzeuge und Ehrengast der Stadt Geretsried jene Stätte seiner Kindheit aufgesucht, die sein Leben bis heute geprägt hat: das Ingenieurshaus 882 der Dynamit AG (DAG) - eines der größten Rüstungswerke der Nazis - an der heutigen Graslitzer Straße. Dort lebte Norman als Neunjähriger mit acht Familienangehörigen von Juli 1944 bis zur Befreiung durch die Amerikaner im Mai 1945.
Den Kontakt zu Weber und das dichte Besuchsprogramm, das dieser gemeinsam mit seiner Ehefrau Sandy und Freunden aus Tennessee am Dienstag absolvierte, hat Friedrich Schumacher ermöglicht. Die beiden Männer verbindet seit drei Jahren eine Freundschaft und ein reger Informationsaustausch über die Geretsrieder Zeitgeschichte. Schumacher ist aktives Mitglied des Arbeitskreises Historisches Geretsried (AHG), dem die Stadt maßgebliche Dokumentationen verdankt.
Im Garten des Geretsrieder Stadtmuseums, das ebenfalls in einem früheren Ingenieurshaus der NS-Zeit eingerichtet wurde, begrüßte Bürgermeister Michael Müller Norman Weber zum Eintrag ins Goldene Buch. Er würdigte Webers "kurze, aber sehr interessante Geschichte", die ihn mit Geretsried verbinde. Weber seinerseits lobte die kontinuierliche engagierte Auseinandersetzung der Stadt mit ihrer Geschichte. Zum Beleg, dass dies auch in seiner amerikanischen Heimat bekannt sei, brachte er zwei Anerkennungsschreiben des Bürgermeisters von Wilson County (Tennessee) für Müller und Schumacher mit.
Auf den offiziellen Teil folgte der sehr emotionale. Die heutigen Bewohner des ehemaligen Ingenieurshauses 882, Familie Tschakert, ermöglichten es Weber und Begleitung, die Räume zu betreten. Obwohl das Haus gerade tiefgreifend umgebaut wird, erkannte Weber alles wieder, erklärte, wo seinerzeit das Wohnzimmer war, wo Tante, Onkel und Oma untergebracht waren und wo man aus dem Radio die Reden Hitlers und anderer Nazi-Größen anhörte. Anhören musste, wie er sagt; er habe nie verstanden, warum.
Norman lebte zusammen mit seinen Schwestern und seiner Mutter während des Kriegs in diesem Haus, weil der Schwager seiner Mutter, Josef Lindner, technischer Leiter der DAG war. Webers Vater, der zunächst in Berlin gearbeitet hatte, war inzwischen als Soldat der Wehrmacht in Polen, die Mutter hatte sich mit zwei Kindern zu ihrer Schwester und ihrem Schwager geflüchtet und war in Wolfratshausen vom dritten Kind entbunden worden.
Für den Jungen Norman muss all dies unergründlich gewesen sein. Seine Mutter habe immer zu ihm gesagt, es sei besser, wenn er nicht alles wüsste, sagt er. Fast alles habe er sich mühsam recherchieren müssen. Und letztlich verdanke er es Friedrich Schumacher, dass seine Kindersicht auf die Ereignisse endlich durch eine Erwachsenenperspektive vervollständigt wurde.
Denn als Kind machte Norman Weber Erfahrungen, die er nicht fassen konnte. Der 88-Jährige steht in jenem Raum, in dem er damals lebte, und zeigt aus dem Fenster. Dort seien sie vorbeigegangen, abgemagerte, drangsalierte und gequälte Gestalten. Es war jene letzte mörderische Folter, welche die SS noch kurz vor Kriegende den Gefangenen des Konzentrationslagers Dachau antat, heute bekannt als "Todesmarsch". Das wusste Norman Weber freilich damals nicht, und wie erschütternd dieser Eindruck war, das ist ihm heute noch anzusehen. Er zeigt wieder aus dem Fenster, erklärt, dass der Blick seinerzeit nicht durch so viel Grün verstellt war, und sagt: "Dort war das Zwangsarbeiterlager. Dort haben die Männer den Lagerleiter erschlagen." Und auch das habe er als Neunjähriger gesehen, ohne dass es ihm jemand erklärte. Er spricht von Albträumen und von einem Therapeuten, der ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung attestiert habe. Dennoch steht der 88-Jährige den ganzen langen Tag mit all seinen Erinnerungen durch.
Der Luftschutzbunker im Schwaigwaller Hang ist die nächste Station. Dort hatten die Bewohner des Hauses 882 am 9. April 1945 Schutz gesucht, als die US-Luftwaffe die DAG bombardierte. Auch das hatte der Neunjährige miterleben müssen. Weiter geht es zum Todesmarsch-Mahnmal und zum Erinnerungsort Badehaus in Wolfratshausen-Waldram, dem ehemaligen Föhrenwald. Drei Tage lang wohnte Norman mit Mutter und Schwestern dort unter dem Schutz der Amerikaner, bevor sie in Wolfratshausen unterkamen, wo die Mutter für die amerikanische Militärverwaltung arbeitete. Schließlich ließ sich die Familie bis 1953 in München nieder. Norman Weber arbeitete dann für die US-Army, übte im Lauf seines bewegten Lebens viele Tätigkeiten aus, vom Fallschirmjäger bis zum Unternehmer, und ist seit Jahren Methodisten-Pastor.
An den Beginn des Besuchs in Geretsried hatte Friedrich Schumacher ein Zitat gestellt, das dem schwarzen amerikanischen Autor James Baldwin zugeschrieben wird: "History is not the past. It is the present. We carry our history with us. We are our history." Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie ist Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte in uns. Wir sind unsere Geschichte. Norman Weber verkörpert dies auf eindrucksvolle Weise. Die vielen verschiedenen Antworten, die er auf die Frage bekam, warum seine Eltern 1939 nach Deutschland zurückkehrten, hat er nie akzeptiert. Etwa weil der Großvater im Sterben lag? Nein, Weber hat all das für Ausreden gehalten. Für ihn bleibt nur eine Erklärung, und der versucht er sich ohne Umschweife zu stellen: Der Vater müsse wohl ein Nazi gewesen sein.