Geretsried:Abschied von einem einzigartigen Sakralbau

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Aus der Vogelperspektive erschließt sich die Besonderheit des Baus besonders gut. (Foto: Hartmut Pöstges)

Die evangelische Kirchengemeinde in Geretsried entwidmet die Versöhnungskirche. Das wabenförmige Haus ist ein Werk des berühmten Architekten Franz Lichtblau mit Bezügen zur Nachkriegsgeschichte der Stadt. Fachleute setzen sich für die Erhaltung ein.

Von Felicitas Amler, Geretsried

Ein Parkplatz, viel trist-graue Fläche, ein Supermarkt und das einzige echte Hochhaus der Stadt, das auch schon bessere Tage gesehen hat: Das ist das Ambiente der evangelischen Versöhnungskirche am Chamalièresplatz in Geretsried. Das Gebäude mit der wabenförmigen Struktur, geschaffen von dem Architekten Franz Lichtblau (1928-2019), wirkt in seinem heutigen Zustand nicht eben einladend. Auf der Rückseite ist es mehrfach mit rot-weißen Zeckenwarnschildern versehen, auf dem Vorplatz mit der sanft ansteigenden Treppe hat sich Laub angesammelt, und die Holzschindeln - ein Charakteristikum des Kirchenbaus - wirken marode. Aber einladend braucht die Kirche aus dem Jahr 1970 ohnehin nicht mehr zu sein, denn ihr Ende als Gotteshaus ist besiegelt. Der Kirchenvorstand der Petruskirche Geretsried, deren Filiale die Versöhnungskirche war, hat die Entwidmung beschlossen. Am Sonntag, 15. Oktober, wird dies feierlich vollzogen. Gottesdienste finden am Chamalièresplatz eh nicht mehr statt.

Nun ist diese Versöhnungskirche aber nicht irgendein Gotteshaus. Sondern ein stadthistorisch ebenso wie architektonisch prägender Bau. Daher war sie voriges Jahr Teil einer Ausstellung des Architekturmuseums der Technischen Universität München (TUM) in der Pinakothek der Moderne. Dazu schrieb die Geretsrieder Architekturhistorikerin Kaija Voss: "Die außergewöhnliche Architektur der Versöhnungskirche ist in das Ausstellungskapitel ,Sakralbauten nach 1945' eingeordnet, einer Zeit, in der Kirchenbauten an der Tagesordnung standen."

Je nach Blickwinkel ist die Kirche von Schildern verstellt. (Foto: Felicitas Amler/oh)

In Geretsried, der Stadt, die auf den Relikten zweier Munitionsfabriken der NS-Zeit erwuchs, seien zunächst Bunkerkirchen oder Notkirchen für die junge Gemeinde entstanden, "später architektonische Neuschöpfungen". Dies war 1960 die Petruskirche, deren Architekt ebenfalls Franz Lichtblau war. Drei Jahre später, so Voss, habe es bereits 1400 evangelische Gemeindemitglieder in Geretsried gegeben, Tendenz steigend. "Der Wunsch nach einem eigenen Raum im Süden der Stadt wurde laut, bisher war die Gemeinde im Pfarrhaus der katholischen Maria-Hilf-Kirche untergekommen. Zehn Jahre nach Eröffnung der Petruskirche wurde ein zweiter aufsehenerregender Bau geweiht, die Versöhnungskirche."

Das Fresko hat der Maler Hubert Distler (1919-2004) gestaltet, der eng mit dem Architekten Franz Lichtblau zusammenarbeitete. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Im Katalog des Architekturmuseums wird erklärt, dass die Architekten Franz Lichtblau und Ludwig N.J. Bauer mit der Geretsrieder Versöhnungskirche den Versuch unternahmen, aus einem wabenförmigen Aluminium-Skelettbausystem stützenfreie, sechseckige und beliebig hohe Räume zu entwerfen. "Das variable Bausystem, eine Art ,Baukasten für den Architekten' ermöglichte eine große Flexibilität bei der Grundrissgestaltung, kurze Bauzeiten und damit die Reduzierung der Baukosten."

Zudem würdigte das TUM-Architekturmuseum zwei lokal bedeutende Aspekte. Da die Versöhnungskirche mit Schindeln aus Zedernholz verkleidet ist, sei das moderne Bausystem äußerlich an Bauten im Alpenraum angepasst. Und sogar Anspielungen an die Vertreibungsgeschichte der Geretsriederinnen und Geretsrieder sind demnach zu entdecken: "Die Fassade spielt mit Erinnerungen an Holzkirchen in Skandinavien oder im Riesengebirge."

So ein stadtbildprägendes und Stadtgeschichte spiegelndes Gebäude sollte unbedingt erhalten werden - möchte man meinen. Doch dies ist keineswegs gesichert. Die evangelische Kirche Geretsried könne es sich nicht mehr leisten, zwei Kirchen zu unterhalten, erklärt Kirchenvorstandssprecher Dieter Kaufmann. Umso mehr, als der bauliche Zustand der Versöhnungskirche "nicht besonders gut" sei. Das Haus, besonders das Dach, brauche immer wieder Pflege. Zuletzt sei eine Reparatur der Heizung nötig gewesen. "Und das war schon ein schwieriger Akt." Eine Gesamtsanierung würde "gleich eine ganz große Aktion", von der Elektrik bis zum Brandschutz, meint Kaufmann.

Weniger Mitglieder, weniger Pfarrer

Dazu kommt, wie die stellvertretende Sprecherin des Kirchenvorstands Bettina Wittmeyer erklärt, dass Pfarrer Georg Bücheler kommendes Jahr in den Ruhestand gehe. Derzeit hat die Petruskirche zweieinhalb Pfarrstellen: Theo Heckel, Bücheler und Christian Moosauer. Die Anzahl der Mitglieder liege bei 4800, nehme aber kontinuierlich ab. "In 15 Jahren haben wir hier keine zweieinhalb Pfarrstellen mehr", prophezeit Wittmeyer. Ohnedies verschiebe sich das Gemeindeleben von den Gottesdiensten zu Begegnungen während der Woche, Veranstaltungen und politischen Diskussionen. Gebraucht werde "ein offenes Haus".

So hat auch die Evangelisch-lutherische Landeskirche (ELKB) der Entwidmung zugestimmt. Die Kirchengemeinde werde sich künftig auf einen Standort, die Petruskirche an der Egerlandstraße, konzentrieren, erklärt ELKB-Sprecher Johannes Minkus. Es gehe darum, "wie die Kirchengemeinde als Eigentümerin angesichts rückläufiger Mitgliederzahlen und Finanzkraft ihrer Verantwortung für ein lebendiges Gemeindeleben gerecht werden kann". Der Sanierungsbedarf überfordere die Kirchengemeinde vollkommen.

Gleichzeitig habe die Petruskirche für die Stadtentwicklung rund um die "Neue Mitte" Geretsrieds Bedeutung. Zusammen mit der Stadt seien die Entwicklungspotenziale herausgearbeitet worden, so Minkus. "Das Kirchengrundstück als ,Scharnier' am Übergang vom Zentrum zur im Süden anschließenden kleinteiligeren Bebauung (...) ergänzt mit den dort schon vorhandenen, aber auch langfristig gewünschten Nutzungen von Kirche, Gemeinderäumen, Kindergarten, Pfarrhaus in perfekter Art und Weise die Neue Mitte Geretsrieds." Nur durch die Verwertung des Standorts Versöhnungskirche bestehe für die Kirchengemeinde die Möglichkeit, die Petruskirche aufrechtzuerhalten.

Die wabenförmige Decke mit den sechs Lichteinlässen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Was genau "Verwertung" bedeutet, bleibt unklar. Es gebe noch keine Beschlüsse, sagt Kaufmann. Ein Abriss würde aus Sicht der Architekturhistorikerin Voss einen großen Verlust bedeuten. Sie sieht in der Versöhnungskirche "ein Symbol für Geretsried". Dies werde auch die Ausstellung zeigen, die sie Ende September mit dem Fotografen Jean Molitor in der Galerie an der Elbestraße präsentiert. Unter dem Titel "Geretsried - ein Teil der bayerischen Moderne" sollen markante Bauten der einstigen Vertriebenenstadt zu sehen sein.

Und Voss hat prominente Unterstützung. Architekt Florian Lichtblau, Sohn des Schöpfers der Versöhnungskirche, hat sich bereits mit Kolleginnen und Kollegen beraten, darunter Andreas Putz, Professor für Neuere Baudenkmalpflege an der TUM, Anja Runkel, die an diesem Lehrstuhl Studentenarbeiten über die Versöhnungskirche betreut, und Dietlind Bachmeier, Leiterin der Geschäftsstelle des Architekturmuseums. Für Herbst sei ein Gespräch geplant, so Lichtblau, an dem auch die Landeskirche sowie die politische und die kirchliche Gemeinde teilnehmen.

Kaija Voss erklärt, die Versöhnungskirche sei ebenso wie die katholische Nikolauskapelle, die derzeit für eine halbe Million Euro aus Mitteln der Stadt (200 000 Euro), der Erzdiözese (80 000 Euro) sowie Spenden von Unternehmen und der Bürgerschaft saniert wird, "ein Kleinod". Sie hofft, dass ein Abriss verhindert werden kann. Da die Versöhnungskirche am Chamalièresplatz liegt, welcher der französischen Partnerstadt Geretsrieds gewidmet ist, fragt sie, ob das Gebäude nicht das Potenzial zu einem deutsch-französischen Begegnungszentrum hätte.

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