Oktoberfest:Die wilden Mythen um die Wiesn

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Hat Oberbürgermeister Thomas Wimmer nur aus Zufall das erste Fass im Schottenhamel angezapft? (Foto: dpa)

Hat Albert Einstein mal im Festzelt Glühbirnen geschraubt? Gibt es im Augustinerzelt manchmal Paulaner? Hinter den meisten Wiesn-Legenden steckt kein Körnchen Wahrheit, doch ihrer Verbreitung steht das nicht entgegen.

Von Franz Kotteder

Urbane Mythen nennt man Geschichten, die sich überall verbreiten, obwohl fast kein Funke Wahrheit in ihnen steckt. Die berühmte Vogelspinne in der Bananenkiste etwa oder die Lieferservice-Pizza, die der Pizzabäcker aus lauter Ärger verunreinigt hat. Alles Geschichten, die erstunken und erlogen sind. Meistens erkennt man sie daran, dass der, der sie erzählt, nicht selbst erlebt hat. Und auch den, der sie angeblich erlebt hat, nicht persönlich kennt.

Das Oktoberfest ist ein wahres Biotop für solche Geschichten. Wo viel Geld im Spiel ist, machen sich viele Menschen Gedanken, was nicht alles sein könnte. Und wo man dauernd mit Emotionen und Illusionen spielt, wäre es ja erstaunlich, würden sie sich nicht ganz besonders wilde Geschichten ausdenken.

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Warum der Oberbürgermeister anzapft

Zu den harmloseren zählen jene, die zwar nicht wahr sind, aber mittlerweile Eingang in die mehr oder weniger offizielle Geschichtsschreibung gefunden haben. Zum Beispiel die Anekdote, der damalige Oberbürgermeister Thomas Wimmer (SPD) sei 1950 beim Wiesn-Einzug von der Kutsche der Schottenhamels mitgenommen worden, weil er zu spät dran war. Während der Fahrt habe man dann spontan beschlossen: Der OB zapft an! Reiner Zufall also, dass so die Anzapfzeremonie entstand? "Ganz sicher nicht", sagt Amadeus Danesitz, Autor der 2017 zum 150. Wiesn-Jubiläum der Schottenhamels erschienenen Familienchronik: "Michael Schottenhamel und Thomas Wimmer waren gute Freunde und haben sich die Anzapfzeremonie schon lange vorher ausgedacht. Sie war auch angekündigt, denn es gab beim ersten Mal jede Menge Fotografen und Zeitungsberichte, das war kein Zufall."

Überhaupt, der Einzug der Wiesnwirte und Brauereien. Eine beliebte Legende besagt: Wer auf einer der Kutschen mitfahren will, muss zwischen 500 und 5000 Euro hinlegen. Daran stimmt freilich gar nichts, der Zug würde in diesem Fall wohl ein jämmerliches Bild abgeben. Tatsächlich laden Wirte und Brauer gute Freunde und Geschäftspartner ein mitzufahren. Gratis, versteht sich. Wie man hört, haben Wirte und Brauer aber andere Wege gefunden, ausreichend viel Geld zu verdienen.

Hat Albert Einstein als Kind die elektrische Beleuchtung eines Bierzelts montiert? (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Einstein auf dem Oktoberfest - oder doch nicht?

Historisch zweifelhaft ist auch die Geschichte, dass Albert Einstein daran beteiligt war, das Zelt der Schottenhamels als erstes mit einer Elektrobeleuchtung auszustatten, indem er selbst die Glühbirnen einschraubte. Der große Physiker wurde 1879 geboren, das Zelt erhielt seine elektrische Beleuchtung aber bereits 1888. Da war Einstein neun Jahre alt, und dass er damals auf dem Oktoberfest eigenhändig Bogenlampen montierte, ist unwahrscheinlich, auch wenn der Begriff Kinderarbeit damals noch nicht negativ besetzt war. Richtig ist, dass die Lampen von der elektrotechnischen Firma J. Einstein & Cie. installiert wurden, die dem Vater und dem Onkel von Albert Einstein gehörte und an der Lindwurmstraße ihren Sitz hatte. Denkbar, dass der junge Albert zu Hilfstätigkeiten herangezogen wurde - ob als Neunjähriger oder später als Student, wie eine andere Version lautet. Freilich hat der Schottenhamel-Chronist Danesitz nirgendwo einen Beleg dafür gefunden.

Ein weiterer Schottenhamel-Mythos spielt in der Gegenwart. Alle Jahre wieder erblüht zur Wiesnzeit das Gerücht, Michael F. Schottenhamel, der zusammen mit seinem Cousin Christian das Festzelt betreibt, interessiere sich dafür, das Löwenbräuzelt zu übernehmen und damit dessen Wirte Wiggerl Hagn und Stephanie Spendler auszubooten. "Auf Ideen kommen die Leute!", sagt Michael Schottenhamel selbst dazu, "wir haben doch schon ein Zelt, und außerdem bin ich mit meinen Lokalen gut ausgelastet." Er führt die Schlosswirtschaft Schwaige in Nymphenburg und den Weichandhof in Obermenzing, sein Cousin Christian den Nockherberg und die Menterschwaige. Zu den Gerüchten sagt auch der Brauereichef Bernhard Klier von Spaten-Löwenbräu: "Das wäre mir neu. Außerdem wollen wir natürlich, dass unser Wiggerl Hagn mindestens 100 Jahre alt wird und das Zelt behält, solange er will."

Wie bekommt man ein Oktoberfest-Zelt?

Wie man an ein Wiesn-Zelt kommt, das bewegt immer wieder die Fantasie der Menschen und nicht zuletzt die zahlreicher Krimi-Autoren, auch der Münchner "Tatort" beschäftigt sich gelegentlich mit dieser Frage. Tatsächlich entscheidet das die Verwaltung nach einem ausgeklügelten Punktesystem. Dennoch gehen immer wieder Gerüchte um, ein neuer Wiesnwirt - zuletzt Siegfried Able - habe sein Zelt nur bekommen, weil er mit dem Oberbürgermeister entweder verwandt, verschwägert, zur Schule gegangen oder als Taufpate der Kinder irgendwie verbunden sei. Und wenn nicht mit dem Oberbürgermeister, dann eben mit der Dritten Bürgermeisterin.

Münchner Lokalreporter haben im Jahr 2014, als Able auf die Wiesn kam, viele Stunden damit verplempert, diesen Gerüchten nachzugehen: Es war nichts dran. Einzige nachweisbare Verbindung zum Rathaus war, dass die SPD-Fraktion einmal eine Weihnachtsfeier im "Eiszauber" von Able abgehalten hat. Wenn es danach ginge, müssten aber inzwischen etwa 150 große Zelte auf der Wiesn stehen, denn politische Parteien feiern und versammeln sich öfter mal bei Wirten, die scharf auf ein Festzelt sind.

Wird zwischen den Zelten Bier ausgeliehen?

Eine andere, gänzlich unpolitische Geschichte, die immer wieder zu hören ist, geht so: Wenn im Augustinerzelt das Bier ausgeht, wird Paulaner ausgeschenkt. Augustiner-Vorstand Martin Leibhard ist perplex: "Auf was für Einfälle die Leute kommen! Unsere Stammgäste würden das sofort spannen." An der Geschichte sei selbstverständlich "null Komma null dran", schließlich schenkt das Augustiner-Festzelt sein Bier nach wie vor aus großen Holzfässern - den sogenannten Hirschen, die 200 Liter fassen - aus und nicht aus großen Containertanks wie fast alle anderen Zelte. Auch das Paulanerfestzelt, das obendrein noch ganz schön weit weg ist vom Zelt der Augustinerbrauerei. Außerdem hat Augustiner neben dem Lager im Zeltturm auch ein großes Holzfasskühllager im hinteren Biergartenbereich. Leibhard sagt: "Dort lagern wir so viele Fässer, die weit mehr als nur einen Tag reichen, da kann uns das Bier gar nicht ausgehen." Und selbst wenn: "Unser Notdienst für die Gastronomie und sämtliche Pächter ist rund um die Uhr besetzt, wir können auch sonst jederzeit liefern."

Der wahre Hintergrund der Geschichte könnte sein, dass Günther Steinberg, dem Wirt des Hofbräuzelts, in seinem ersten Jahr auf der Wiesn, 1981, einmal tatsächlich das Bier ausging. Er musste sich von seinem Nachbarn Richard Süßmeier im Armbrustschützenzelt ein paar Fässer ausleihen, und so gab es im Hofbräuzelt für ein paar Stunden Paulanerbier zu trinken.

Gibt es in den Zelten geheime Separees?

Die abenteuerlichste Geschichte aber, die gerne herumerzählt wird, ist die von den Musikpodien der Wiesnkapellen, die heimlich als illegale Nachtklubs genutzt werden. Der Münchner Autor und Comedian Moses Wolf greift das in seinem Oktoberfestkrimi "Monaco Mortale" auf und schildert eine Szene, in der sich zwei Burschen unterhalten. Unter der Musikkapelle, sagt der eine, "geht's ins Separee. Da werden angeblich jedes Jahr die meisten Kinder auf der Wiesn gezeugt." Die Mär vom Rotlichtklub unter der Blasmusik wird nach wie vor gerne verbreitet; kaum ein Zelt, das ein Podium hat, bleibt davon verschont. Wahrscheinlich, weil sich viele Leute fragen, wie dieser Raum eigentlich genutzt wird. Dabei ist das ganz einfach: als Abstellraum und Garderobe für die Musikanten und Bedienungen halt.

Befinden sich unter den Musikpodien geheime Klubs? (Foto: Robert Haas)

Einen wahren Kern gibt es freilich doch. Denn im Augustinerzelt hatte in den Neunzigerjahren eine Kioskbetreiberin im Podium tatsächlich einmal eine kleine, improvisierte Schnapsbar fürs Personal eingerichtet. Die Sache wuchs sich allerdings etwas aus, bald kamen Freunde und Bekannte von Musikanten der Kapelle und von Kellnern und Kellnerinnen auf ein Getränk vorbei. Den Wirten wurde es schließlich zu bunt, als sie davon erfuhren, und sie verboten die Gaudi im Musikpodium.

Ein neuer Wiesn-Mythos aber war geboren und wartete nur noch darauf, schön farbig ausgeschmückt zu werden.

© SZ vom 02.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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