Vor einigen Jahren fand ich eines Morgens mein Fahrrad mit Papier umwickelt vor dem Haus meines Nachbarn. Da ich es nicht besser wusste, hatte ich zunächst den Verdacht, dass es sich um eine rassistische Attacke handeln könnte. Als ich jedoch einen Haufen Baumzweige vor der Tür meines Nachbarn entdeckte, ahnte ich, dass es um etwas anderes ging. An diesem Tag zeigte der Kalender den 1. Mai an.
Man nennt die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai auch Freinacht oder Philippinacht. Junge bayerische Burschen ziehen durch die Straßen und verüben Streiche. Der 1. Mai galt früher als der Beginn des Sommerhalbjahres, gewissermaßen der Übergang zwischen Winter und Sommer. So besagt ein weit verbreiteter Mythos, dass in dieser Nacht die Geister und Hexen ihr Unwesen treiben, weswegen andere den Begriff Walpurgisnacht verwenden. In dieser Nacht ist es dem Brauchtum nach erlaubt, Faxen zu machen.
Die Bayern und ihre Frühjahrsstreichkultur. Damit ist nicht das Anstreichen des Maibaums gemeint. Sie mögen es schon gerne, sich gegenseitig hereinzulegen. Es beginnt mit dem ersten April und seinen besseren und schlechteren Scherzen, fortan werden in den Scheunen der Orte um München Maibäume gestohlen - und in der Philippinacht landen Dinge, die im Freien stehen oder rumliegen, an unrühmlichen Orten.
Es ist eine Kultur, die mir alles andere als fremd ist. Vor dem Krieg in Syrien haben wir im Jugend-Zeltlager nachts die Schlafenden an ihre Matratzen gebunden oder ihre Schuhe versteckt. Es waren harmlose Streiche aber wuchtig in ihrer Wirkung. Oberste Regel damals: Niemand darf zu Schaden kommen, weder körperlich noch emotional.
Vor drei Jahren war ich erstmals mit dabei, einen Maibaum zu stehlen. Mit den Menschen aus Kirchseeon begab ich mich auf Raubzug nach Zorneding. Die Wachen aber sahen mich und so scheiterte die Mission. Ich fühlte mich wie eine Gurke in der Tomatenbox. Besser lief es, als ich mit einem Kumpanen den Kirchseeoner Maibaum des Nachts bewachte. Ich schlief zwar ein, doch kein Gauner nutzte das aus.
Als der IS in Syrien in meiner Stadt Raqqa regierte, war fast alles verboten, was Spaß macht. Vorher hatten wir den Brauch, bei Hochzeiten das Gesicht der Braut mit Kohle zu bemalen. Das war nun alles verboten. Kein Witz.
In Bayern kochen die Streichespieler im Frühjahr Schokoladen-Pudding und und stellen ihn auf die Terrasse des Nachbarn, der dann seinen Hund verdächtigt, ehe das Rätsel zur Zufriedenheit aller aufgelöst wird. Bei Eiern auf der Windschutzscheibe, angezündeten Mülltonnen oder versteckten Gullideckeln hört der Humor dann wiederum auf.
Schön ist, dass das Brauchtum auch für Nettigkeiten etwas im Repertoire hat. Etwa Birken in der Mainacht in den Garten der Geliebten zu stellen, um seine Zuneigung auszudrücken. In diesen Tagen können es gar nicht genug Birken sein in ukrainischen, jemenitischen, afghanischen, syrischen und bayerischen Gärten.
Ihre Flucht hat drei Journalistinnen und Journalisten nach München geführt. In der wöchentlichen Kolumne "Typisch deutsch" schreiben sie, welche Eigenarten der neuen Heimat sie mittlerweile übernommen haben.