Meisterwerk der Ballettgeschichte:Rückkehr der Maschinenwesen

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Zarter Pas de deux im Drahtspiralen-Tutu: die "Tänzerin in Weiß" (Maxine Morales) und ein mit Kissen ausgepolsterter Muskelprotz (Lorien Ramo). (Foto: Marie-Laure Briane)

Die Junior Compagnie des Staatsballetts zeigt Oskar Schlemmers "Triadisches Ballett". Was macht dieses radikale Tanzexperiment aus den Zwanzigerjahren heute noch so aufregend?

Von Jutta Czeguhn

All diese immersiven Shows, bei denen durch digitale Rechnerleistungen und Programmier-Geschick Pixel statt Pigmente in Wallung geraten. Und Kunstwerke, vor allem der Kategorie "Hängt als Wartezimmer-Poster bei meinem Zahnarzt", zur dreidimensionalen Raumerfahrung werden. Der ganz große Hype! Dabei hat sich schon in den Zwanzigerjahren Oskar Schlemmer, der einflussreiche Bauhauskünstler, seinen berühmten Kahlkopf darüber zerbrochen, wie Kunst auf den Raum übergreifen könnte. Und wie der Mensch, dieses "raumbehexte Wesen", darin vorkommt.

Visionärstes, radikalstes Ergebnis von Schlemmers Suche nach neuen Kunst- und Theaterformen ist wohl das "Triadische Ballett", in dem er seine fantastischen Automatenwesen von der Leinwand oder dem Skulpturen-Podest auf die reale Bühne entließ. Mehr als 100 Jahre nach der Uraufführung dieses Tanzereignisses in Stuttgart macht die Junior Companie des Bayerischen Staatsballetts das legendäre Werk nun wieder gegenwärtig. Vom 1. bis zum 3. Juni im Prinzregententheater.

Der "Taucher" (Auguste Marmus) trägt einen Lackkreiskragen und etwas Vorhangartiges. Dieses Kostüm wurde nach einer der neun Original-Figurinen gearbeitet, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten. Die anderen neun sind verschollen. (Foto: Marie-Laure Briane)

Im Jahr 2014 konnten die Münchner das "Triadische Ballett" zum ersten Mal erleben. Damals waren knapp 70 Jahre nach Schlemmers Tod vergangen, und die Urheberrechte nun endlich gemeinfrei. Zuvor hatten bizarre Rechtsstreitigkeiten um das Erbe des Künstlers Ausstellungen lange verkompliziert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Dass sich die Junioren des Staatsballetts an dieses immens aufwendige Projekt überhaupt heranwagten, lag auch am damaligen Direktor Ivan Liška. Der Tscheche kannte das "Triadische Ballett" noch aus seiner aktiven Zeit als Tänzer. Er und seine mittlerweile verstorbene Ehefrau, Ballettmeisterin Colleen Scott, hatten 1977 bei der bahnbrechenden Rekonstruktion des Werks durch Gerhard Bohner an der Akademie der Künste in Berlin mitgewirkt und in mehr als 80 Vorstellungen an über 30 Orten in Europa, Asien und Amerika getanzt.

1989 aber wanderten die kiloschweren Kostüme in Kisten, erst 2014, befreit vom Erbenzwist, wurden sie in München wieder ausgepackt. Und Liška konnte das ideelle Erbe Schlemmers nun an eine neue Tänzergeneration weitergeben. Mit riesigem Erfolg. Auch die Juniors tourten mit dem "Triadischen Ballett" durch die halbe Welt. Und nun, 2023, sind es wieder andere junge Tänzer, die sich in München in Oskar Schlemmers kinetisches Abenteuer stürzen.

Wer kiloschwere Kugelhände hat, spart sich das Fitness-Studio: Tänzer Tyler Robinson beim Work-out. (Foto: Marie-Laure Briane)

Wer das Glück hatte, Schlemmers Original-Figurinen, konzipiert als bewegte Plastiken, aus der Nähe zu studieren - im musealen Raum in Stuttgart oder Dessau - ist hingerissen und verwirrt zugleich: Wie will man in diese kühnen Design-Eskapaden, in diese Rufzeichen der Moderne Menschen stecken? "Der Tänzer türkisch", "der Taucher" oder "die Tänzerin in Weiß" - nur die Hälfte von ursprünglich 18 Figurinen sind im Original erhalten, und nur deshalb, weil Schlemmer sie 1938 nach New York hatte verschiffen lassen. Zur Aufführung dort im Museum of Modern Art sollte es nie kommen, in der Obhut des MoMa aber überlebten die Kunstwerke den Zweiten Weltkrieg, erst 1960 kehrten sie nach Europa zurück.

Da war Oskar Schlemmer schon lange tot, die Nationalsozialisten hatten den Künstler, der sich selbst als unpolitisch sah, kalt gestellt. Zu seinen Lebzeiten wurde sein Werk in Deutschland nur noch ein einziges Mal gezeigt, 1937 bei der berüchtigten Schau "Entartete Kunst" in München. Schlemmer starb 1943, mit nur 54 Jahren in einem Sanatorium in Baden-Baden. Seine Figurinen hat er nie wieder tanzen sehen.

Oskar Schlemmer selbst hatte in der Uraufführung getanzt

Sie sind poetisch, grotesk, unheimlich - absolut herrlich. Und als Kostüme, zumal für den Tanz, recht anti-elastisch. Oskar Schlemmer selbst, ein athletischer Mann, hatte in der Uraufführung getanzt. Damals sollen Teile dieser obstinaten Konstrukte auf der Bühne umhergeflogen sein.

Dazu wird es im Prinzregententheater hoffentlich nicht kommen. Von Ivan Liška, mittlerweile künstlerischer Leiter des Bayerischen Junior Balletts und Vorstandsvorsitzender der Heinz-Bosl-Stiftung, weiß die Companie, dass es die Kostüme sind, die hier die Kontrolle haben. Kiloschwer aus Stahlblech, Sperrholz oder Draht setzen sie Drehmomenten und Sprüngen Grenzen, schaffen neue Raumerfahrungen nach den Gesetzen der Geometrie. Und beim Kostümwechsel müssen gleich zwei Garderobieren assistieren.

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Schlemmer schickte seine puppenhaft steifen Maschinenwesen in einer Zeit auf die Bühne, als auf dem Monte Verità im Tessin die Ausdruckstänzer spärlich bekleidet herumhopsten. Während Mary Wigman und Rudolf von Laban dort Natürlichkeit und die Befreiung des Körpers feierten, sah Schlemmer die Nähe von Kunst und Technik und suchte nach Ordnungsprinzipien: "Warum triadisch? Weil die Drei eine eminent wichtige, beherrschende Zahl ist, bei der das monomane Ich und der dualistische Gegensatz überwunden sind und das Kollektiv beginnt." Der Mensch sei nicht nur ein Organismus aus Fleisch und Blut, sondern auch ein Mechanismus aus Maß und Zahl. Als hätte Oskar Schlemmer, dessen Lebensthema die Figur im Raum war, die Virtual Reality vorausgesehen.

Das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer, Bayerisches Junior Ballett, 1.-3.6., 19 Uhr, Prinzregententheater, Karten über die Tageskasse der Bayerischen Staatsoper, Telefon 21851920 oder www.staatsoper.de

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