SZ-Serie "Alles im Griff", Teil 14:Die Haut als Leinwand

Lesezeit: 4 min

"Wie frei haben": Julia Tempel an ihrem Arbeitsplatz. (Foto: Robert Haas)

Julia Tempel ist Künstlerin durch und durch. Sie wollte Grundschullehrerin werden, der Zufall führte sie in ein Tattoostudio. Dort ist sie heute noch - und auf einen Termin bei ihr muss man lange warten.

Von Miriam Treitinger

Die Nadeln sind ein bisschen wie Pinsel. Damit ihr charakteristischer Stil gelingt, muss Julia Tempel vor allem mit breiten Nadeln arbeiten. Denn wenn sie ein Tattoo sticht, malt sie auf der Haut wie auf einer Leinwand - meistens großflächig. Eigentlich sind es viele dünne Nadeln nebeneinander, aber das sieht man nur, wenn man ganz genau hinschaut. Die Tätowiermaschine bewegt diese nach oben und unten - mehrere Tausend Mal pro Minute.

Um damit die Farbe etwa einen Millimeter unter die Haut zu bringen, braucht man viel Übung, Geschick und vor allem ruhige Hände. Vom Vibrieren der Maschine darf man sich nicht stören lassen. Aber wer denkt, dass jeder Strich auf Anhieb perfekt sein muss, der irrt. "Man macht ständig Fehler, auch als Tätowierer. Es ist nur wichtig, dass sie nicht so groß sind, dass man sie nicht ausbügeln kann", erklärt Julia Tempel.

Fast wäre sie Grundschullehrerin geworden. Julia Tempel, 1988 in Landshut geboren und dort aufgewachsen, hat Kunstpädagogik und Grundschullehramt studiert, ein Praktikum führte sie während des Studiums in ein Münchner Tattoo-Studio. Zuerst zeichnete sie nur Entwürfe, doch ein Kollege überredete sie, ihm ein Tattoo zu stechen. Nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, ist sie, anstatt das Referendariat zu machen, einfach in dem Studio geblieben. Inzwischen ist Julia Tempel eine der renommiertesten in ihrem Beruf. Sie ist vielfach ausgezeichnet. Schon 2012 wurde sie auf Platz zwei der besten deutschen Nachwuchstätowierer gewählt. Es folgten nationale wie internationale Preise. In ihrem Raum im Tattoo-Studio hängen etliche Urkunden, auf Regalbrettern stehen viele Pokale.

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"Tempel" ist nicht ihr richtiger Name, sondern der des Tattoo-Studios. Eigentlich heißt sie Julia Bauer. In ihrer geschäftlichen E-Mail-Adresse nannte sie sich anfangs "die Julia aus dem Tempel". Irgendwann wurde daraus der Künstlername Julia Tempel. Unter diesem Namen tätowiert sie nicht nur, sondern stellt auch Kunstwerke aus und verkauft sie. Die meisten ihrer Werke verbinden verschiedene Techniken und Materialien. So arbeitet sie etwa mit tätowierter, veganer Haut, die sie selbst aus einem Teepilz herstellt. Aber auch mit Acrylglas oder Holz. Sie hat auch schon die Wände einer Kapelle bemalt. "Ich habe das Gefühl, wenn ich in die Arbeit gehe, habe ich frei", sagt sie. Denn auch im Tattoo-Studio kann sie sich ihrer Leidenschaft widmen: dem Malen und Zeichnen.

Hand, Augen, Nacken: Diese Körperteile werden beim Tätowieren am meisten beansprucht. Als sie sich 2010 eine Handgelenkentzündung zuzog und drei Monate lang eine Schiene tragen musste, fiel ihr auf, was sie plötzlich alles nicht mehr machen konnte. Mit ihrer linken, nicht dominanten Hand, hat sie dann die MRT-Aufnahmen abgezeichnet. Seitdem beschäftigt sie sich in ihrer Kunst viel mit der Anatomie von Händen.

Bilder von Händen, die eine Wäscheklammer oder eine Tätowiermaschine bedienen, hängen auch an den Wänden ihres Arbeitsraums im Studio. Außerdem steht da eine Kunststoffhand, auf die sie zur Übung Blumen und eine Fliege tätowiert hat. Die Hände ihrer Kunden tätowiert sie hingegen nur selten, denn die stark beanspruchte Haut an der Hand lässt Tätowierungen schnell altern. Dann verblasst das Tattoo, und die Konturen werden unscharf.

Julia Tempel bei der Arbeit. (Foto: Robert Haas)

Schon während des Studiums sei ihr klar gewesen: "Ich will mein Tätowieren und Malen näher zusammenbringen." Deshalb wendet sie nicht nur Tattoo-Techniken in ihrer Malerei an, sondern auch Maltechniken beim Tätowieren. Zum Beispiel hat sie einmal über ein schon teilweise weggelasertes Tattoo gestochen - ein sogenanntes Cover-up. Dabei fiel ihr auf, dass sie so sogar besser arbeiten kann. Die verblassten Laser-Rückstände sind dabei wie die Grundierung auf einer Leinwand. Ein anderer Kunde hat ihr dann auch erlaubt, sich künstlerisch auf seinem Arm auszuleben. Bevor sie die eigentlichen Motive auf seinen Arm "malte", durfte sie den ganzen Arm rot einfärben.

Auch bei allen anderen Tattoos, die sie sticht, kann man sehen: Sie sind Gemälde auf dem Körper. Das dauert. Aktuell tätowiert sie bis zu fünf Stunden am Tag, es sind aber auch schon einmal elf gewesen. Währenddessen unterhält sie sich mit den Kunden. Durch die langen Gespräche sind einige Kunden inzwischen zu Freunden geworden. Das lenkt sie nicht ab. Im Gegenteil: Wenn sie sich nebenbei unterhält, kann sie sogar ein wenig besser tätowieren - am liebsten übrigens Tiere und Blumen, nicht so gerne technische Motive wie Mandalas. "Da habe ich einfach keinen Spielraum."

Obwohl inzwischen 219 Unternehmen in München in der Branche "Tätowier-, Tattoostudio, Piercing" bei der Handelskammer gemeldet sind, und Tattoos in der Mitte der Bevölkerung angekommen sind, gibt es immer noch viele Vorurteile über tätowierte Personen. "Das fängt schon in der U-Bahn an. Man wird einfach anders angeschaut." Daher ist Julia Tempel selbst nur an Stellen tätowiert, die sie bei Bedarf durch Kleidung bedecken kann.

Entgegen vieler Klischees ist ihre Kundschaft - vom Firmenchef bis hin zur Schülerin - bunt gemischt. Gemeinsam haben sie aber alle, dass sie viel Wert auf Qualität legen. Eine gesetzlich geregelte Altersgrenze für Tattoos gibt es übrigens nicht. Jugendliche unter 16 Jahren werden im Tattoo-Studio Tempel allerdings nicht tätowiert. Bis zum 18. Geburtstag muss zudem ein Erziehungsberechtigter zustimmen.

Meistens sticht Julia Tempel farbenfrohe Tattoos. Dafür braucht sie Tinte in vielen verschiedenen Farben. (Foto: Robert Haas)

Wer sich jetzt aber ein Tattoo von ihr wünscht, den muss Julia Tempel enttäuschen. Zeit für neue Kunden? Die hat sie schon lange nicht mehr. Selbst Stammkunden müssen auf ein neues Tattoo etwa zwei bis drei Jahre warten. Damals, als sie noch einmal im Jahr einen Beratungstermin für alle Interessierten angeboten hat, seien an einem Tag 80 bis 100 Menschen zu ihr gekommen. Tatsächlich tätowiert habe sie letztendlich etwa ein Viertel der Interessierten: "Wenn mir jemand eine Idee erzählt und ich direkt ein Bild im Kopf habe, dann weiß ich, dass ich das tätowieren will." Den Kunden, bei denen sie kein Bild im Kopf hatte, hat sie andere Tätowierer empfohlen, die den gewünschten Stil besser beherrschen.

Jede(r) braucht in seinem Beruf den Kopf zum Arbeiten. Manche benötigen darüber hinaus aber auch noch eine sehr spezielle Fingerfertigkeit. In unserer neuen Serie stellen wir in loser Folge Menschen in München vor, die einer besonderen Hand-Arbeit nachgehen.

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